Die Person sichtbar machen – Übersetzer:innen in Selbstauskünften

By Kirsten Schindler (University of Wuppertal, Germany)

Abstract

English:

How do translators perceive their translation process? What resources do they use beyond cognitive abilities? And how are they themselves perceived? The article focuses on the translator and makes him or her visible. The conditions and characteristics of the translation process are worked out from self-reports by translators. At the same time, the material is used to show which characteristics are attributed to the now visible person and which consequences are derived from this attribution.

German:

Wie nehmen Übersetzer ihren Übersetzungsprozess wahr? Welche Ressourcen nutzen sie jenseits kognitiver Fähigkeiten? Und wie werden sie selbst wahrgenommen? Der Beitrag setzt die übersetzende Person in den Mittelpunkt und macht sie sichtbar. Aus Selbstauskünften von Übersetzern werden Bedingungen und Merkmale des Übersetzungsprozesses herausgearbeitet. Zugleich wird am Material gezeigt, welche Merkmale der nun sichtbaren Person zugeschrieben werden und welche Folgen aus dieser Zuschreibung abgeleitet werden. 

Keywords: visibility, translation process, identity, self-disclosure, Sichtbarkeit, Übersetzungsprozess, Identität, Selbstauskünfte

©inTRAlinea & Kirsten Schindler (2022).
"Die Person sichtbar machen – Übersetzer:innen in Selbstauskünften"
inTRAlinea Special Issue: Embodied Translating – Mit dem Körper übersetzen
Edited by: Barbara Ivancic and Alexandra L. Zepter
This article can be freely reproduced under Creative Commons License.
Stable URL: https://www.intralinea.org/specials/article/2602

1. Ausgangspunkt

In der taz erscheint am 15. Januar 2019 folgendes Gedicht der freien Literaturübersetzerin Christel Hildebrandt[1], mit dem sie auf zwei vorangegangene Beiträge reagiert (Rezensionen zu Michel Houellebecqs Roman „Serotonin“[2] und der Neuübersetzung von Virginie Despentes‘ „King Kong Theorie“[3]) und das mit „Vergesst doch bitte nicht die ÜbersetzerInnen!“ überschrieben ist (ZK-15)[4].

Es ist ein altes Leiden

und ist doch immer neu,

den Namen zu vermeiden,

bleibt sich der Schreiber treu.

In höchsten Tönen

Lobt er/sie das Buch,

wie wunderbar, und wer es hat geschrieben,

ist allen sonnenklar.

Autor/Autorin fanden so manch geschliffen‘ Wort,

doch fanden sie es leider nur am fremden Ort.

Ob Houellebecq oder Despentes,

ihr Französisch ist brillant,

doch hier leider unverständlich,

ist das nicht allbekannt?

Warum also verschweigen,

wer die deutschen Floskeln fand?

Es sind die Übersetzer!

Und denen wird nur schlecht gedankt.

Gerade unsere taz, ja,

sie enttäuschte uns gar sehr.

Hier muss nicht nur Berichtigung, nein,

hier muss in Zukunft Besserung her!

Christel Hildebrandt prangert hier ein Fehlverhalten an, das gerade nicht im Lassen, sondern im Unterlassen besteht. Die Übersetzer:innen der literarischen Texte werden nicht genannt, sie tauchen im Zeitungstext, wenn überhaupt, dann nur bei den bibliographischen Angaben auf, ansonsten sind sie personen- und körperlos. An anderer Stelle findet sich die Kritik in ähnlicher Weise, wenngleich weniger kämpferisch und eher verwundert vorgetragen: Im Interview mit dem literaturcafé vergleicht die Übersetzerin Gabriele Haefs bereits zwanzig Jahre zuvor das Fehlen des Namens der Übersetzer:innen mit dem Fehlen der Pianist:innen bei einer Tonaufnahme:

„Ich weiß nicht. Warum so wenig auf die Leute geachtet wird, die übersetzen; ich verstehe es auch nicht. Ein Buch zu kaufen und zu lesen, ohne auf den Namen des Übersetzers oder der Übersetzerin zu achten, kommt mir so vor, als kaufte jemand eine Aufnahme eines Klavierkonzertes, und interessierte sich zwar für den Komponisten, aber nicht für den Pianisten. Der Komponist ist natürlich wichtiger, aber ein schlechter Pianist kann schließlich die gesamte Hörfreude ruinieren.“ (BK-06)

Und auch in Nicklaus‘ aktuellem Beitrag (2020) wird die Dichotomie zwischen Sichtbarkeit versus Unsichtbarkeit von Übersetzer:innen zum Ausgangspunkt genommen und dazu auf die bekannte Metaphorik von Venuti verwiesen.[5]

Im vorliegenden Beitrag wird diese Kritik derart an den Anfang gestellt, dass daraus der Gegenstand selbst abgeleitet wird: Im Fokus soll die Person (literarische:r Übersetzer:in) stehen und zwar in einer ganzheitlichen Perspektive, die den Körper ebenso umfasst wie die Identität als Zusammenspiel von Geist und Psyche. Dieser zunächst sehr breit angelegte Ansatz wird gleichsam verkürzt und auf einen Fluchtpunkt bezogen: die Person des:der Übersetzer:in. Historische, sozial- und übersetzungswissenschaftliche Perspektiven werden damit ausgeblendet, wenngleich sich die Autorin des engen Geflechts von Text und Kontext einerseits, Person und Gesellschaft andererseits durchaus bewusst ist.[6] In einem ersten Kapitel wird diese Fokussierung grundlegender begründet. Übersetzer:innen werden anschließend als Akteur:innen im Übersetzungsprozess verortet. Theoretisch knüpft der Beitrag an Überlegungen an, wie sie im Kontext des Embodiment (Zepter 2013) diskutiert werden, zusätzlich wird auf Modellierungen und Befunde der Schreibforschung rekurriert.[7]

2. Daten und Methode

Linguistische oder im weitesten Sinne sprachliche Fragen und Herausforderungen beim Übersetzen sind anschaulich beschrieben und bilden die Grundlage entsprechender Lehrbücher und Curricula (exemplarisch Stolze 2015; 2018; Blümer 2016; Kußmaul 2015). Übersetzungsprozesse – insbesondere kognitive Entscheidungen beim Übersetzen – sind seit einigen Jahren systematischer empirisch erforscht worden und geben Einblicke in Strategien und Routinen von Übersetzer:innen (House 2017). Fragen, die in einem erweiterten Sinne die Person des:der Übersetzenden betreffen – und das schließt körperliche, sinnliche und emotionale Prozesse ein, werden erst seit wenigen Jahren diskutiert (siehe auch Ivančić und Zepter 2020), wenngleich die Übersetzungswissenschaftlerin House dies bereits als (nicht ungefährlichen) Trend ausmacht:

Here I am referring to the currently popular trend of elevating the person of the translator, his socio-cultural embeddedness, his creativity, his visibility, his statue and influence above all concerns in translation studies (…) I believe that in view of such widespread exaggerated emphasis on the subjective personal, it is necessary to renew a focus on both language and text – the linguistic focus, and on what happens in translators‘ minds when they engage in translating texts – the cognitive focus. (House 2019: 3)

House geht es um eine stärker textuell-linguistische Sicht auf die Übersetzung; also die Frage, ob und inwieweit ein Text von sich aus konkrete Übersetzungsstrategien bzw. -lösungen für seine mögliche Übertragung vorschlägt. Das kurze Zitat verweist aber auf eine unnötige Zuspitzung bzw. Dichotomie hin, kognitive Prozesse sollen durchaus nicht ausgeklammert werden, wenn Fragen der Körperlichkeit und Identität von Übersetzer:innen diskutiert werden. Vielmehr geht es – auch in diesem Beitrag – um eine Kontextualisierung, um ein Eingebettetsein dieser Prozesse, so wie es auch Tschacher für das Konzept des Embodiments zeigt (Tschacher 2017: 15; Tschacher und Bannwart 2021).

Dass Übersetzer:innen als Personen sichtbar(er) werden, ist darin begründet, dass sie selbst dies mit einem erstarkenden Selbstbewusstsein einfordern, es liegt aber auch daran, dass sie vermehrt über ihre eigenen Prozesse und Probleme Auskunft geben; also eigenes Forschungsmaterial generieren. Ivančić und Zepter (2020) beobachten – gerade für den italienischsprachigen Raum – die Entstehung einer neuen Gattung, die sie als „translation biographies“ (125) beschreiben. Dies sind längere Texte, in denen Übersetzer:innen einen persönlichen Einblick in ihre Übersetzungspraxis geben.

Ortner (2000) hat in einer groß angelegten Studie nachhaltig herausgearbeitet, dass diejenigen Personen, die beruflich und professionell schreiben (nämlich Autor:innen literarischer Texte), für die das kreative-sprachliche Moment in besonderer Weise konstitutiv ist, auch in besonderer Weise geeignet sind, um über ihr Tun Auskunft zu geben. Er rechtfertigt dies folgendermaßen:

Es ist doch einmal der Mühe wert, dort nachzufragen, wo das Wunder der sprachlichen Produktivkraft wirksam wird, bei denen also, die von Berufs wegen auf das Wunder angewiesen sind. (…) Dafür will ich die Metakognitionen der Schreibenden nutzen – so wie sie in (Selbst-) Aussagen von Schreibenden sichtbar werden. (113)

Ähnlich ließe sich bei Übersetzer:innen literarischer Texte argumentieren. Auch diese können in besonderer Weise Auskunft geben, insbesondere, wenn es um selbst erlebte Eindrücke und Erfahrungen, aber auch dann, wenn es um Fragen ihrer körperlichen Empfindungen und ihrer eigenen Identität geht. Denn auch sie sind – ähnlich wie Schriftsteller:innen – auf das Gelingen des sprachlich-kreativen Prozesses angewiesen und müssen diesen so gut es geht moderieren und steuern.

Neben den von Ivančić und Zepter titulierten translation biographies, die im deutschsprachigen Raum eher selten sind, soll in dem Beitrag daher auf solche Selbstauskünfte rekurriert werden, wie sie in Interviews mit Übersetzer:innen aufscheinen. Die Methode des Interviews ist als Befragungsinstrument in der empirischen Sozialforschung gut etabliert und wird seit einigen Jahren systematisch im Kontext deutschdidaktischer Fragestellungen (Schmidt 2018a; 2018b; Maus 2018; Lindow 2018) wie auch der Untersuchung von Schreibprozessen (Dengscherz 2017; Dreyfürst 2017) verwendet. Interviews ermöglichen die Erhebung von Einstellungen und Haltungen, aber auch die Beschreibung von (wiederkehrenden) Praktiken und Erfahrungen. Solche Interviews werden kontinuierlich in Tages- und Wochenzeitungen, aber auch auf eigenen Plattformen und in Blogs publiziert. Für den folgenden Beitrag wurden dazu diese Interviews beziehungsweise Interviewreihen genutzt, die nun als ein Korpus zusammengefasst werden[8]:

  • in Zeitungen veröffentlichte Interviews mit Übersetzer:innen (Zeitungskorpus, ZK)
  • in Blogs veröffentlichte Interviews (Blogkorpus, BK)
  • Interviews, die als wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht sind (Wissenschaftskorpus, WK)
  • Umso fokussierter die Fragestellung, umso eher gilt auch, dass derart gewonnene Daten über einzelne Themen keine Auskunft geben, da sie nicht entsprechend erfragt wurden. Ergänzend wurden daher zwei eigene Interviews mit Übersetzer:innen geführt, um einzelne Themen und Aspekte zu vertiefen (Eigenes Korpus, EK).

Zeitungskorpus

Autor:in und Titel

Erscheinungsort und Datum des Erscheinens

Nummer

Frank Heibert: Alliteration sticht Rhythmus

Die ZEIT, 31. März 2021

ZK-01

Christian Bos: Wenn Lyrik zum Medienereignis wird. Amanda Gormans „The Hill We Climb” erscheint auf Deutsch – Der Aufwand beim Übersetzen hat sich gelohnt

Kölner Stadt-Anzeiger, 30. März 2021

ZK-02

dpa: „The Hill we climb“ Übersetzungsdebatte um Amanda Gormans Gedichte

Die ZEIT, 26. März 2021

ZK-03

Rasha Kayat: Diversität im Literaturbetrieb. Ich bin nicht euer Migrationsmaskottchen!

Die ZEIT, 17. März 2021

ZK-04

Christian Bos: „Identität allein garantiert für nichts“ Übersetzer Frank Heibert über die Streitfrage, wer die Dichterin Amanda Gorman übersetzen darf.

Kölner Stadt-Anzeiger, 12. März 2021

ZK-05

o. A.: Katalanischer Übersetzer soll Gorman-Gedicht nicht übertragen

Süddeutsche Zeitung, 11. März 2021

ZK-06

Ronald Düker: Gedicht von Amanda Gorman. Hineinschlüpfen ins Andere

Die ZEIT, 10. März 2021

ZK-07

Tobias Rüther: Amanda Gorman. Ist das Entmündigung?

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05. März 2021

ZK-08

Aureloe von Blazekovic: Amanda Gorman. Eine Frage der Hautfarbe

Süddeutsche Zeitung, 2. März 2021

ZK-09

Ulrich Blumenbach: Erbarme dich, Heer der Haarscheren! Vom Abenteuer, Joshua Cohens Roman „Witz“ zu übersetzen

Neue Zürcher Zeitung, 18. Juli 2020

ZK-10

Daniel Amann: Wie lispelt man auf Deutsch? Über die (kleinen und größeren) Tücken des Übersetzens

Neue Zürcher Zeitung, 9. Dezember 2019

ZK-11

Jannik Schäfer: Übersetzer Frank Heibert „Ich lasse im Ausland schreiben“

Frankfurter Rundschau, 18. Oktober 2019

ZK-12

Christoph Amend/ Jasmin Müller-Stoy: Als Vater war er gleichermaßen großartig und furchtbar

ZEIT Magazin 43, 17. Oktober 2019

ZK-13

Anne Burgmer: „Jedes Buch hat einen Klang“ Der Kölner Übersetzer Paul Berf überträgt die Romane von Karl Ove Knausgård ins Deutsche

Kölner Stadt-Anzeiger. Bücher Magazin, 11. Oktober 2019

ZK-14

Christel Hildebrandt: Vergesst doch bitte nicht die ÜbersetzerInnen!

taz, 15. Januar 2019

ZK-15

Kaspar Heinrich: Adam Thirlwell „Übersetzer sollten Neues schaffen“

DIE ZEIT, 29. November 2013

ZK-16

Richard Schneider: „und leben kann man davon auch nicht“ Literaturübersetzer Harry Rowohlt im Interview

Der Standard, 27. Februar 2007

ZK-17

Tab. 1: Übersicht Zeitungskorpus

Blogkorpus

Autor:in und Titel

Erscheinungsort und Datum des Erscheinens

Nummer

Ulrike Fink: Darf ich das jetzt? – Herausforderung Übersetzen

www.borromaeusverein.de, 21. Februar 2021

BK-01

Viktor Funk: Hauptperson Havanna – Ein Interview mit dem Übersetzer Hans-Joachim Hartstein

https://www.54books.de, 21. Januar 2021

BK-02

Katharina Mahrenholtz/Daniel Kaiser: Dosenpfirsiche und Kondensmilch mit Nicole Seifert

https://www.ndr.de/kultur/buch/eatREADsleep-Dosenpfirsiche-und-Kondensmilch-mit-Nicole-Seifert,eatreadsleep140.html

7. August 2020

BK-03

Miriam Neidhardt: Überleben als Übersetzer. Interviewreihe

Blog zum Handbuch für freiberufliche Übersetzerinnen: https://www.xn--berleben.als-bersetzer-rlen.de, Januar 2020 fortlaufend

BK-04

Jörn Radtke: Über schlechte Übersetzer und ihre Opfer. Kürzer. Schneller. Besser. Harry!

Bücher Magazin https://www.buecher-magazin.de, Juli 2012

BK-05

Wie der Pianist eines Klavierkonzerts. Ein Interview mit der Übersetzerin Gabriele Haefs („Sofies Welt“)

https.//www.literaturcafe.de, 11. Januar 1999

BK-06

o. A.: Interview mit einem Japanisch-Übersetzer

Übersetzer in München

(http://uebersetzerinmuenchen.de (o. J.)

BK-07

Tab. 2: Übersicht Blogkorpus

Wissenschaftskorpus

Autor:in und Titel

Erscheinungsort und Datum des Erscheinens

Nummer

Swetlana Geier: Ein Leben zwischen den Sprachen

Fischer Taschenbuch 2008; 5. Auflage 2019

WK-01

Die Frau mit den fünf Elefanten.

Dokumentarfilm: Schweiz/Deutschland (97 Minuten), 2007.

WK-02

Elfriede Jelinek und Claudia Augustin (2008): „Die Übersetzung schmiegt sich an das Original wie das Lamm an den Wolf“.

In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 29 (2) https://doi.org/10.1515/IASL.2004.2.94

WK-03

Ilma Rakusa im Gespräch mit Nadja Grbic (2008): „Auf dem Tisch liegt die Sprache und knistert“ Schreiben und Übersetzen als poetische Herausforderung.

 

Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 29 (2) https://doi.org/10.1515/IASL.2004.2.118

WK-04

Umberto Eco (2003): Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen.

München/Wien 2006

WK-05

Tab. 3: Übersicht Wissenschaftskorpus

Eigenes Korpus

Interview mit den Übersetzerinnen Sandra Knuffinke und Jessika Komina

3. November 2019

EK-01

Interview mit dem Schriftsteller und Übersetzer Michael Ebmeyer

28. September 2020

EK-02

Tab. 4: Übersicht Eigenes Korpus

Ähnlich wie in Ortners (2000) groß angelegter Studie zu Schreibprozessen bei Schriftsteller:innen nutzt auch dieser Text vornehmlich bereits veröffentlichte Materialien. Dies hat methodische Vor- wie Nachteile, die auch schon Ortner für seine Studie ausführlich beschrieben hat (116-119): Als günstig erweise es sich, dass das Material vorhanden und zugänglich sei, dass die Befragten über Verbalisierungs- und Beobachtungskompetenz verfügen, sie also in besonderer Weise geeignet seien, Selbstauskünfte zu formulieren, dass über einen solchen Zugang zugleich eine Vielzahl von Beobachtungsanlässen und Befragten repräsentiert und eine zu stark hypothesengerichtete Erhebung (durch entsprechende bereits einengende Fragen) vermieden werde. Als nachteilig stelle sich da, dass es durchaus zu semantischen Verschiebungen kommen könne, die Befragten ähnliche/gleiche Benennungen für Unterschiedliches nutzen beziehungsweise andersherum unterschiedliche Benennungen für Ähnliches verwenden. Durch die verschiedenen Befragungsinteressen komme es zu thematischen Veränderungen und wechselnden Befragungsperspektiven. Schließlich können durch die Interviewer:innen Annahmen zum Ausgangspunkt gemacht werden (Präsuppositionen), die im Gespräch nicht mehr überprüft werden. Bezogen auf die Befragten können Erinnerungen lückenhaft, unvollständig und einseitig sein. Trotz der skizzierten Nachteile überwiegen für das hier verfolgte Ziel die Vorteile, denn die Vielfalt und Breite der Interviews geben ein weitaus größeres (und möglicherweise vollständigeres) Bild, als wenn dies ausschließlich als eigene (und dann sicher weniger umfangreiche) Studie umgesetzt worden wäre.

3. Übersetzer:innen im Übersetzungsprozess

Was braucht es, um literarische Texte zu übersetzen? Sind jenseits kognitiver Kompetenzen kulturelle, körperliche oder persönliche Erfahrungen konstitutiv für den Prozess beziehungsweise die Qualität des Ergebnisses? Anders formuliert: Können solche Erfahrungen auch zur (persönlichen) Ressource für Prozess und Produkt werden? Können Merkmale der Person auch der Übersetzung entgegenstehen? Ausgehend von den Beobachtungen der Übersetzer:innen sollen erste Annäherungen an diese Fragen formuliert werden. Zur Systematisierung der Befunde werden theoretische Ankerpunkte gesetzt.

3.1 Übersetzer:innen als Akteur:innen

In welcher Weise Schreibbedingungen auf das (berufliche) Schreiben einwirken, hat Jakobs mit ihrem Schalenmodell dargestellt (zuletzt 2014), das verschiedene Schichten unterscheidet.

Abb. 1: Das Schalenmodell von Jakobs (in Jakobs und Perrin 2014, 19)

In der Mitte, und damit als Ausgangspunkt, steht die schreibende Person, die über bestimmte Eigenschaften charakterisiert wird. Gleichwohl ist ihr Schreiben eingebettet in einen gestalteten Arbeitsplatz, eine (berufliche) Organisation (zum Beispiel einen Verlag mit seinen unternehmerischen Abläufen), eine Domäne (hier der Literaturbetrieb) und einen kulturellen Kontext (der sich beim Übersetzen in doppelter Weise auswirkt, der Kultur des Originaltextes und der Zielkultur). Schreibprozesse sind in der Modellierung Jakobs von diesen vielfältigen Schalen bestimmt. Inwieweit Schreiber:innen diese Schalen mitgestalten oder ob sie ausschließlich fremdbestimmt auf ihr eigenes Schreiben einwirken, hängt auch davon ab, wie frei beziehungsweise autonom sie agieren können (beispielsweise als Noviz:innen oder Expert:innen, als freischaffende Übersetzer:in oder anderes; siehe auch die vielfältigen Stimmen dazu in BK-04).

Überträgt man dieses Modell auf das Übersetzen, dann können beispielsweise Alter und Erfahrung zu Ressourcen werden, die den Übersetzer:innen bewusst sind und die sie gezielt und strategisch für ihre Übersetzung einsetzen können. Dies kann sich darauf beziehen, dass das Selbstbewusstsein ein anderes ist oder auch, dass auf eigene Erfahrungen rekurriert wird und diese ein besseres Verständnis für den Ausgangstext ermöglichen.

Swetlana Geier, die in mehreren längeren Interviews Auskunft über ihr Übersetzen gibt und auch in dem Film „Die Frau mit den fünf Elefanten“ dokumentiert wurde, antwortet auf die Frage, was beziehungsweise wie sie sich bei der Neuübersetzung von „Verbrechen und Strafe“ (30 Jahre später) verändert hat.

„Ich war damals nicht so mutig und deshalb kulanter. Ich hätte mich sicherlich damals auch mit dem neuen Titel [gemeint ist der Titel „Verbrechen und Strafe“ anstelle von „Schuld und Sühne“, K.S.] nicht durchgesetzt. Seither habe ich mich fast unentwegt mit Dostojewskij beschäftigt. (…) Manches sehe ich jetzt einfach deutlicher.“ (WK-01: 155)

Auf eine Erfahrung in der frühen Kindheit verweist Geier bei einer zentralen Übersetzungsentscheidung, dem Finden des Titels:

„Es [gemeint ist die große Hungersnot in der Sowjetunion, K.S.] hat für später insofern eine große Bedeutung gehabt, weil Dostojewskijs Aufzeichnungen aus dem Kellerloch bei mir eben „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ heißen – und nicht „aus dem Untergrund“ oder wie man es sonst übersetzt hat. Denn seit der Zeit als kleines Mädchen weiß ich, dass in Russland auf dem Land und zum Teil auch in der Stadt, zum Beispiel bei unserem dreistöckigen Haus, nicht unterkellert wurde. Und der Raum zwischen dem Mutterboden und dem Estrich, der wurde oft von Bauern gebraucht, um Saatgut aufzuheben oder um überhaupt etwas zu verstecken – eine tote Großmutter oder so. Und als bewaffnete Trupps durchs Land zogen und den Bauern das Saatgut fürs nächste Jahr wegnahmen, da haben die Bauern eben die Bretter gehoben und diese Kellerlöcher mit Saatgut oder Saatkartoffeln gefüllt. Das sind also weder Keller noch Untergründe, das sind eben diese Kellerlöcher.“ (WK-01: 16)

Aber auch die Gestaltung (und gegebenenfalls freie Wahl) des Arbeitsplatzes und der Arbeitsumgebung spielt für die Übersetzer:innen eine wichtige Rolle; hier die Übersetzerinnen Sandra Knuffinke und Jessika Komina. Sie profitieren davon, dass sie weitgehend selbstständig darüber entscheiden können, wo (und wie) sie arbeiten.

JK und SK: „Wir vagabundieren beim Schreiben gern ein bisschen herum. Wir haben beide ein Arbeitszimmer, in dem auch die Wörterbücher stehen, dort sitzen wir am Schreibtisch. Manchmal haben wir aber auch Phasen, in denen wir uns dort zu sehr weggesperrt fühlen, dann sitzen wir z.B. im Wohnzimmer am Esstisch oder auf dem Sofa.

JK: Sobald es das Wetter zulässt, bin ich, wie gesagt, am liebsten im „Freiluftbüro“ im Garten, da kann man den Blick schweifen lassen, und, wenn man gerade nicht weiterkommt, eine Runde durch die Botanik schlendern (oder jäten).“ (EK-01)

Der Arbeitsplatz ist damit nicht nur Arbeitsumgebung, sondern zugleich auch Ort, an dem körperliche Erfahrungen gesammelt werden („schlendern“, „Blick schweifen lassen“, „jäten“), die den Übersetzungsprozess wieder anstoßen können. Gerade auch der bewusste Wechsel des Arbeitsplatzes kann Übersetzungsblockaden lösen. Noch einmal Swetlana Geier:

„Doch das Gefühl bleibt: Ich kann’s nicht – und dann räum‘ ich den Keller auf. Oder ich nähe die Knöpfe an den Bettbezügen an. Ich tu also etwas ganz Widernatürliches. Küchenschrank aufräumen ist auch sehr gut. – Aber dann muss ich es [gemeint ist der Beginn der Übersetzungstätigkeit im engeren Sinne, K.S.] doch tun.“ (WK-01: 139)

Auch hier zeigen sich Parallelen zu den Beobachtungen von Schreiber:innen und der Dokumentation ihrer Schreibtische (zusammengefasst unter anderem in Lehnen und Schindler 2019). Dabei werden erkennbare Präferenzen für die Gestaltung deutlich, wenngleich der Arbeitsort nicht immer frei wähl- bzw. veränderbar ist (je nach räumlichen und finanziellen Ressourcen, der Notwendigkeit, in einem (öffentlichen) Büro zu arbeiten und so weiter).

3.2 Die Sinne schärfen – hören, sehen und riechen im Übersetzungsprozess

In der Theorie des Embodiments werden die Wechselwirkungen zwischen Umwelt, Körper und psychischen Prozessen beschrieben (Zepter 2013). Zentral ist dabei, dass es gerade nicht darum geht, dass ein Reiz-Reaktionsschema greift, bei dem Erfahrungen hintereinandergeschaltet werden, sondern, dass Gehirn/Geist/Psyche in doppelter Weise eingebettet sind: eingebettet in einen Körper (mit seinen Wahrnehmungen und Reaktionen) und eingebettet in eine Umwelt, die unmittelbar auf den Körper und ebenso – vermittelt über den Körper – auf Gehirn/Geist/Psyche wirkt. Tschacher (2017) schematisiert den komplexen Zusammenhang so:

Abb. 2: Tschacher (2017, 15)

Wie eng körperliche Empfindungen und sprachliche Prozesse für Übersetzer:innen miteinander verknüpft sind, zeigen Beispiele aus den Interviews. Danach gefragt, wie sich der Übersetzer Paul Berf einem Text nähert, den er übersetzt, antwortet er:

„Im Grunde mache ich, was jeder macht. Ich lese das Buch. Und während des Lesens nehme ich einen Ton, eine Melodie wahr. Jedes Buch hat einen eigenen Klang. Die Voraussetzung, ein Buch übersetzen zu können, ist, dass ich diesen Ton finde. (…) Man übersetzt ja pro Tag eine bestimmte Anzahl von Seiten. Das bereite ich dann einen Tag vorher vor: Vokabeln, Recherche. Denn das eigentliche Übersetzen muss in einem Flow passieren. Da kann man nicht ständig aufhören. Diesen Ton im Kopf findet man am besten, wenn man in einem gewissen Rhythmus übersetzt.“ (ZK-14)

Der Klang entsteht im Kopf, wird aber auch selbst wieder sinnlich wahrnehmbar, wenn Übersetzer:innen den Text laut lesen, sich vorlesen lassen oder diktieren, wie Jessika Komina iluustriert:

JK: „Vor kurzem habe ich bei Word die „Laut vorlesen“-Funktion für mich entdeckt, die gar nicht so übel ist. Ich lese mir sowieso immer wieder Passagen vor, weil man dadurch leichter merkt, wo es im Text noch hakt, und das funktioniert tatsächlich noch besser, wenn man es sich von jemand anderem vorlesen lässt, auch wenn es nur ein Roboter ist.“ (EK-01)

Das Sehen findet konkret beim Lesen Anwendung, es ist nach Auskunft der Übersetzer:innen aber auch ein imaginiertes Sehen, das den Zieltext sichtbar macht, bevor er konkrete Formen annimmt. Swetlana Gaier beobachtet dabei – fast auf eine naturwissenschaftliche Weise – ihren Text von außen.

„Es stellt sich immer wieder heraus und das ist ein Zeichen für einen hochwertigen Text, dass der Text sich bewegt. Und plötzlich – man hat das vorbereitet und das/man sieht alles und man weiß alles, aber/ und plötzlich ist da etwas, was man noch nie gesehen hat. (…) Beim Waschen verlieren die Fäden ihre Orientierung. Man muss eigentlich dem Faden helfen seine exakte Orientierung wieder zu bekommen. Ich meine, das ist ein Gewebe. Und das ist doch auch der Text und das Textil. Und wenn man das dann vor sich hat, dann ist das so wie frischer Schnee.“ (WK-02)

Sinnliche Erfahrungen sind Bestandteil der Umwelt. Diese Umwelt ist aber nicht ausschließlich die gegenwärtige Situation, in der sich die Übersetzer:innen befinden, sie geht über diese hinaus. Der Übersetzer Frank Heibert hat für sich folgendes herausgefunden.

„Ich kann keine Literatur aus einem Land übersetzen, wo ich nicht weiß, wie dort die Hausflure riechen. Man muss sinnliche Erfahrungen haben mit der Welt, in der wir uns bewegen“ (ZK-12).

Eine gelungene Übersetzung erzeugt nach Ansicht des Schriftstellers und Übersetzers Michael Ebmeyer das gleiche Gefühl wie der Ausgangstext.

„Das entscheidende Kriterium für eine gute literarische Übersetzung entzieht sich einer rationalen Erklärung: Der Text soll sich in der Zielsprache möglichst genauso »anfühlen« wie in der Ausgangssprache. Und eben das ist die große Herausforderung, wenn die kulturellen Kontexte sehr unterschiedlich sind.“ (EK-02)

Sinnliche Wahrnehmungen werden von Übersetzer:innen im Übersetzungsprozess gezielt eingesetzt, sie dienen der Prozesssteuerung und der Qualitätskontrolle („genauso anfühlen“, „Ton finden“, „frischer Schnee“) des übersetzten Textes. Sie sind zugleich Ausdruck der Kreativität der Übersetzer:innen, indem sie „realistische Phantasie“ und „geordnete Faszination“ (Groeben 2013: 150) zeigen:

Realistische Phantasie. Kreative Problemlösungen sind nur möglich, wenn man sich mit vitaler Phantasie aus den bisherigen (Realitäts-)Strukturen zu lösen vermag. Zugleich aber darf die Verbindung zur Realität nicht verloren gehen (…) Diese Verbindung ist z.B. dadurch aufrecht zu erhalten, dass man in der Lage ist, Problemstellungen wie -lösungen in Metaphern, Analogien etc. vor dem inneren, geistigen Auge zu visualisieren. (…)

Geordnete Faszination. Die immer wieder festgestellte Ambiguitätstoleranz von Kreativen hängt mit ihrer Bevorzugung von uneindeutigen oder mehrdeutigen Reizen im Vergleich zu eindeutig strukturierten Mustern zusammen. Diese Präferenz von Komplexität bedeutet, dass Kreative von vielschichtigen, ungeordneten Gegenständen, Situationen, Problemen etc. fasziniert sind. Zugleich arbeiten sie mit ihrer Problemlösekompetenz aber an der Reduktion von Komplexität, d.h. an der ordnenden Strukturierung der vielschichtigen Objekte. (Groeben 2013: 150)

3.3 Die Identität der Übersetzer:innen – (un)gewollte Sichtbarkeit

3.3.1 Der Fall Harry Rowohlt

Der fehlenden Sichtbarkeit einer Vielzahl von Übersetzer:innen stehen wenige andere gegenüber, die eine hohe Popularität genießen und als Star-Übersetzer:innen wahrgenommen werden. Ein solches Beispiel ist der 2015 verstorbene Autor, Sprecher, Schauspieler und Übersetzer Harry Rowohlt.

Abb. 3: Dominik Bauer und Elias Hauck (2013): Man tut, was man kann, nix

Ähnlich eines Schauspielers ist der Übersetzer Harry Rowohlt wiedererkennbar, da er seinen eigenen sprachlichen Stil in die Übersetzungen einschreibt. Entsprechend ist es dann weniger die Stimme der Autor:innen, die zählt, sondern vielmehr die des Übersetzers. Harry Rowohlt selbst formuliert seine Bedeutung für den Text selbstbewusst und antwortet auf die Frage, ob ein Übersetzer auch die Qualität des Originals verbessern kann:

„Dürfte er eigentlich nicht. Ich habe drei Bücher von David Sedaris übersetzt, und ich hasse es, Leute zu übersetzen, deren Englisch schlechter ist, als mein Deutsch, aber Sedaris’ Englisch ist sogar schlechter als mein Englisch, was man der Übersetzung natürlich leider nicht mehr anmerkt, insofern ist sie nicht werktreu.“ (ZK-17)

Gerade dieses Wiedererkennen des Übersetzers Rowohlt und das damit verbundene Verdrängen der Autor:innen kritisiert Michael Ebmeyer hingegen scharf.

„Ich vermute schon, dass ich eine eigene Stimme habe, als Übersetzer wie als Autor. Wichtig finde ich aber, dass die Stimme des Übersetzers sich nicht in den Vordergrund drängt. Deshalb wundere ich mich zum Beispiel über den legendären Ruf, den Harry Rowohlt als Übersetzer genießt – dabei kloppte er jeden Text gnadenlos so zurecht, dass ein rauschebärtiger Leseonkel ihn schön »mit Betonung« vortragen konnte. Selbst Flann O’Brien klang bei ihm wie Harry R., und das ist wirklich eine Zumutung.“ (EK-02)

Der Erfolg der Übersetzungen von Harry Rowohlt mag aber gerade in dieser Sichtbarkeit und der Wiedererkennbarkeit begründet sein. Wenngleich die Rolle, die Übersetzer:innen – auch für die Qualität des Textes – spielen, sicher bedeutsam ist, scheint mir Harry Rowohlts Rolle weniger seiner fachlichen Kompetenz und mehr seinem großen Ego zu verdanken. Und ob es den Autor:innen so recht ist, dass ihre Texte beim Übersetzen direkt lektoriert werden?

3.3.2 Wer darf übersetzen? 

Ein gänzlich anderes Beispiel ist das Folgende. Auch hier stellt sich die Frage der Sichtbarkeit und Identität der Übersetzer:innen, zugleich wird damit eine andere, durchaus sensible Dimension tangiert, darauf bezogen, wer (mit welchen persönlichen Merkmalen ausgestattet) überhaupt bestimmte Texte übersetzen darf?

Im März 2021 ist eine breite Debatte entbrannt, die die Person der Übersetzer:innen fast ungewollt deutlich ins Zentrum rückt. Ausgelöst durch die Frage, welche Personen die Texte (insbesondere das Inaugurationsgesicht: „The Hill we climb“) der jungen Aktivistin und Schwarzen Lyrikerin Amanda Gorman übersetzen können und dürfen, wurden Übersetzer:innen für diese Aufgabe aus- bzw. abgewählt. Die Diskussion entzündete sich an der Person der niederländischen Autorin Marieke Lucas Rijneveld, der abgesprochen wurde, dieser Übersetzungsaufgabe als Weiße (und nicht-binäre) Person gerecht werden zu können.[9] Dabei wird nicht ihre fachliche Kompetenz kritisiert (und das obwohl sie keine Übersetzerin, sondern Schriftstellerin ist) – die Entscheidung wird auf „eine Frage der Hautfarbe“ (ZK-09) zugespitzt. Hautfarbe als soziale Kategorie und daraus erwachsene Erfahrungen können durchaus für das Übersetzen bedeutsam sein. Dann nämlich, wenn es beispielsweise darum geht, bestehende soziale Praktiken und Symbole zu verstehen und einzuordnen, vielleicht auch, um Gefühle und Verletzungen nachzufühlen. Ein zweiter Aspekt, der mit der Diskussion um Rijneveld angesprochen wurde, bezog sich auf die Sichtbarkeit Schwarzer Menschen in den Niederlanden. Mit der Beauftragung einer Weißen Übersetzer:in würden – gerade bei einem vergleichsweise wichtigen Text einer Schwarzen Autorin – Schwarze Übersetzer:innen marginalisiert werden. Janice Deul, die die Debatte initiiert hat, schlägt daher auch Schwarze Spoken Word Künstler:innen wie Munganyende Hélène Christelle oder Baby Gons als angemessene Übersetzer*innen vor – beide stammen aber ebenfalls nicht aus dem Bereich der Übersetzung (ZK-08). Autor:innen wie Rasha Kayat (ZK-04) und Übersetzer:innen wie Frank Heibert (ZK-05) sehen das wiederum kritisch. Sie unterscheiden hier einerseits das legitime Anliegen, Diskriminierung zu vermeiden und Sichtbarkeit für nicht-weiße Menschen zu erhöhen – und auch den Literaturbetrieb entsprechend diverser auszurichten. Zugleich warnen sie davor, dass Identität zum Bewertungsmaßstab von Übersetzer:innen und ihrer Übersetzungsleistung wird. Frank Heibert erläutert das folgendermaßen:

„Zunächst ist das richtig: Kein Weißer soll sich hinstellen und sagen, ich weiß Bescheid, was es bedeutet, als Schwarzer diskriminiert zu werden. Wer genau das Erlebnis haben will, wie Amanda Gorman poetisch und politisch für sich spricht, der kann sowieso nur das Original lesen oder hören. Aber hier geht es um Übersetzung. Übersetzen bedeutet immer, an der Stelle von jemand anderem zu sprechen. Übersetzung ist immer Übersetzung und nicht das Original. Und wie soll sich die Kompetenz einer Person ermessen lassen, die übersetzen soll? An ihrem übersetzten Text! Die Identität dieser Person allein garantiert für nichts.“ (ZK-05)

Ob und wie es Übersetzer:innen gelingt, Erfahrungen der Autor:innen nachzuvollziehen und in ihrer eigenen Sprache einzufangen, stellt sich immer wieder und als fortwährende Herausforderung dar. Das bezieht sich auf ganz unterschiedliche Aspekte, durchaus auch auf die Frage, inwieweit historische Texte (noch) zugänglich sind u.a. Geier, mit der diese Überlegungen schließen sollen, hat bereits früh auf diese Übersetzungsherausforderung hingewiesen, die für sie in den „Grenzen der Persönlichkeit“ der Übersetzer:innen liegen. Für sie bleibt das Übersetzen „möglich“, zeigt aber auch seine Grenzen auf.

„Die Tatsache, dass die Sprachen nicht kompatibel sind, ist jedoch nicht die einzige Hürde beim Übersetzen. Es gibt auch noch persönliche Hürden. Die Grenzen einer Persönlichkeit: Ich bin eine Frau, ich bin eine Russin, ich esse gern Butter, was weiß ich, ich bin unsportlich, ich arbeite gern im Garten. Es ist falsch, wenn man sagt, übersetzen ist unmöglich. Das Übersetzen ist möglich, aber nur in bestimmten Grenzen.“ (WK-01: 117).

4 Einige Überlegungen für die Ausbildung von Übersetzer:innen

Ortner (2000) formuliert für seine Arbeit das Ziel, durch und über die Interviews Ethnogramme von Schriftsteller:innen zu erstellen. Für die Ausbildung von Übersetzer:innen ließe sich etwas Ähnliches denken. Bereits veröffentlichte Interviews könnten im Hinblick auf kognitive und individuelle Strategien und Prozesse, aber auch im Hinblick auf Fragen der Erfahrungen, der eigenen Eindrücke und Erlebnisse ausgewertet werden. Denkbar ist aber auch, dass Studierende selbst forschend tätig werden und beispielsweise Interviews mit Expert:innen führen: Dazu gehört für sie selbst relevante Fragen zu formulieren, die Interviews als Erhebungsmethode zu nutzen, die Interviews zu transkribieren und auszuwerten (Ähnliches beschreiben Lehnen und Schindler 2010, allerdings für Interviews mit Lehrkräften).

Ein gänzlich anderes, aber nicht weniger interessantes Material bilden literarische Texte, in denen Übersetzer:innen oder der Übersetzungsprozess narrativ verarbeitet werden. Anders als die Figur der Dolmetscher:innen, die in zahlreichen (auch neueren) literarischen Texten eingeführt und inzwischen auch literaturwissenschaftlich analysiert wird (exemplarisch Andres 2008; Wilhelm 2010; Šediková Čuhová 2016), scheinen sich Übersetzer:innen der literarischen Bearbeitung allerdings stärker zu entziehen. Wenn Übersetzer:innen eine wichtige Rolle im Text einnehmen, zum Beispiel in Olga Grjasnowa „Der Russe ist einer, der Birken liebt“, Mario Vargas Llosa „Das böse Mädchen“ oder Pascal Mercier „Das Gewicht der Worte“, dann sind die Protagonist:innen meist zugleich Dolmetscher:innen und Übersetzer:innen. Wenngleich also das literarische Material ebenso vielfältig wie reichhaltig Fragen der Sprachlichkeit von Übersetzung beziehungsweise die Mehrsprachigkeit der Protagonist:innen thematisiert (zum Beispiel Ingeborg Bachmann „Simultan“, T.C. Boyle „Schwieriger Kunde“, Italo Calvino „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“), dann sind diese Materialien weniger für Forschungszwecke geeignet, sie stellen aber einen interessanten Redeanlass in entsprechenden Seminarveranstaltungen dar.

Zitierte Literatur

Andres, Dörte (2008) Dolmetscher als literarische Figuren. Von Identitätsverlust, Dilettantismus und Verrat, München, Martin Meidenbauer.

Bauer, Dominik, Elias Hauck (2013) Man tut, was man kann, nix, München, Antje Kunstmann Verlag.

Blümer, Agnes (2016) Mehrdeutigkeit übersetzen. Englische und französische Kinderbuchklassiker der Nachkriegszeit in deutscher Übertragung, Frankfurt a. Main, Peter Lang.

Dam-Jensen, Halle, Carmen Heine, and Iris Schrijver (2019) “The Nature of Text Production – Similarities and Differences between Writing and Translation”, Across Languages and Cultures 2, no. 20: 155–172.

Dengscherz, Sabine (2017) “Retrospektive Interviews in der Schreibforschung” in Qualitative Methoden in der Schreibforschung, Melanie Brinkschulte, und David Kreitz (Hrsg), Bielefeld, WBV: 139–158.

Dreyfürst, Stephanie (2017) “Expert*inneninterviews. Eine qualitative-empirische Methode für die Schreibforschung” in Qualitative Methoden in der Schreibforschung, Melanie Brinkschulte, und David Kreitz (Hrsg), Bielefeld, WBV: 159–185.

Even-Zohar, Itamar (1990) „The Position of Translated Literature within the Literary Polysystem”, Polysystem Studies, Vol. 11: 45-51.  

Groeben, Norbert (2013) Kreativität. Originalität diesseits des Genialen. Darmstadt: WBG. 

Heine, Carmen (2020) “Schreiben und Übersetzen: zwei Perspektiven für eine fächerübergreifende Zusammenarbeit”, Journal für Schreibwissenschaft (JoSch) 20, Nr. 2: 51–57.

House, Juliane (2019) “Suggestions for a New Interdisciplinary Linguo-cognitive Theory in Translation Studies” in Researching Cognitive Processes of Translation, Defeng Li, Victoria Lau Cheng Lei, and Yuanjian He (eds), Singapur, Springer: 3–14.

House, Juliane (2017) Translation – the basics, New York, Routledge.

Ivančić, Barbara, and Alexandra L. Zepter (2020) “On the bodily dimension of translators and translating” in Genetic Translation Studies. Conflict and Collaboration in Liminal Spaces, Ariadne Nunes, Joana Moura and Marta Pacheco Pinto (eds), London, Bloomsbury Publishing: 123–134.

Jakobs, Eva-Maria, and Daniel Perrin (2014) “Introduction and Research Roadmap: Writing and text production” in Handbook of Writing and Text Production, Eva-Maria Jakobs, and Daniel Perrin (eds), Berlin, de Gruyter: 1–24.

Kußmaul, Paul (2015) Verstehen und Übersetzen. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Tübingen, Narr.

Lehnen, Katrin, und Kirsten Schindler (2019): “Orte, Räume, Rituale. Erkundungen von Schreibtischen und Arbeitsplätzen als Teil der Schreibforschung” in Von (Erst- und Zweit-)Spracherwerb bis zu (ein- und mehrsprachigen) Textkompetenzen, Lena Decker, und Kirsten Schindler (Hrsg), Duisburg, Gilles & Francke: 225–247.

Lehnen, Katrin, und Kirsten Schindler (2010) “Berufliches Schreiben als Lernmedium und -gegenstand. Überlegungen zu einer berufsbezogenen Schreibdidaktik in der Hochschullehre” in Textformen als Lernformen, Thorsten Pohl, und Torsten Steinhoff (Hrsg), Duisburg, Gilles & Francke: 233–256.

Lindow, Ina (2018) “Narrative Interviews” in Empirische Forschung in der Deutschdidaktik, Band 2: Erhebungs- und Auswertungsverfahren, Jan Boelmann (Hrsg), Baltmannsweiler, Schneider Hohengehren: 67–80.

Maus, Eva (2018) “Problemzentrierte Interviews” in Empirische Forschung in der Deutschdidaktik, Band 2: Erhebungs- und Auswertungsverfahren, Jan Boelmann (Hrsg), Baltmannsweiler, Schneider Hohengehren: 35–49.

Nicklaus, Martina (2020) “Wann klingt (übersetzte) Sprache fremd?”, trans-kom 13, Nr. 2: 125–144.

Ortner, Hanspeter (2000) Schreiben und Denken, Tübingen, Niemeyer.

Schindler, Kirsten (2021, im Erscheinen) “Literarisches Übersetzen – eine besondere Form des Schreibens”, trans-kom 14, Nr. 1.

Schmidt, Frederike (2018a) “Interviewverfahren. Ein Überblick” in Empirische Forschung in der Deutschdidaktik, Band 2: Erhebungs- und Auswertungsverfahren, Jan Boelmann (Hrsg), Baltmannsweiler, Schneider Hohengehren: 23–34.

Schmidt, Frederike (2018b) “Leitfadeninterviews” in Empirische Forschung in der Deutschdidaktik, Band 2: Erhebungs- und Auswertungsverfahren, Jan Boelmann (Hrsg), Baltmannsweiler, Schneider Hohengehren: 51–65.

Šediková Čuhova, Paulína (2016) “Einsamkeit bei DolmetscherInnen/ÜbersetzerInnen. Figuren bei AutorInnen mit Migrationserfahrung am Beispiel des Romans Der Russe ist einer, der Birken liebt von Olga Grjasnova”, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 46: 37–53.

Stolze, Radegundis (2018) Übersetzungstheorien. Eine Einführung, Frankfurt a. Main, Narr.

Stolze, Radegundis (2015) Hermeneutische Übersetzungskompetenz: Grundlagen und Didaktik, Berlin, Frank & Timme.

Tschacher, Wolfgang (2017) “Wie Embodiment zum Thema wurde” in Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen. 3. Aufl., Maja Storch, Benita Catieni, Gerald Hüther, und Wolfgang Tschacher (Hrsg), Bern, Hogrefe: 11–34.

Tschacher, Wolfgang, und Bettina Bannwart (2021) “Embodiment und Wirkfaktoren in Therapie, Beratung und Coaching”, Organisationsberat Superv. Coach 28, Nr. 1: 73–84.

Toury, Gideon (1995) „The Nature and Role of Norms in Translation”, Descriptive Translation Studies and Beyond 1995, 53-69.

Wilhelm, Christine (2010) “Traduttore traditore – Vermittler durch Verrat: Eine Analyse literarischer Translatorfiguren in Texten von Jorge Lis Borges, Italo Calvino und Leonardo Sciascia.“ Trier, VWT Wiss. Verlag.

Zepter, Alexandra Lavinia (2013) Sprache und Körper. Vom Gewinn der Sinnlichkeit für Sprachdidaktik und Sprachtheorie, Frankfurt a. Main, Lang.

Noten

[1] Ungeachtet der Vorgabe der Zeitschrift, Autor:innennamen nur mit dem Nachnamen anzugeben, werden alle Übersetzer:innen mit Vor- und Nachname genannt. Auch das dient dazu, dass sie als Person sichtbar werden.

[4] Die angegebene Signatur verweist auf das Material/Korpus, das für diesen Beitrag verwendet wurde, die Übersicht findet sich in Kapitel 2.

[5] Allerdings hier mit einer anderen Stoßrichtung: Nicklaus geht es um die Frage, ob die Fremdheit des literarischen Textes nicht auch in der Übersetzung aufscheinen sollte und zwar gezielt über sperrige und ungewöhnliche Sprachformen. In meinem Beitrag soll aber weniger der übersetzte Text, sondern vielmehr die Person des:der Übersetzer:in im Mittelpunkt stehen.

[6] An dieser Stelle sei den Gutachter:innen für ihre vielfältigen und konstruktiven Hinweise gedankt, z.B. auf den Beitrag von Toury (1995), der den Zusammenhang zu Normen in der Übersetzung (translation norms) aufspannt, wie auch die Überlegungen von Even-Zohar (1990). Even-Zohar arbeitet die Rolle von Übersetzungen (als Texte) in einem kulturellen System heraus und argumentiert für die Bedeutung, die Übersetzungen auch für die nationale Kultur (respektive Literatur) spielen können.

[7] Begründet wird dies ausführlicher in Schindler (2021), siehe aber auch die Beiträge von Heine (2020), Dam-Jensen, Heine und Schrijver (2019).

[8] Eine Vielzahl der Texte ist online zugänglich, kann also auch für eigene Untersuchungen genutzt werden.

[9] Ähnlich erging es auch dem katalanischen Übersetzer Victor Obiols (ZK-06). Die deutsche Übersetzung („Den Hügel hinauf“) ist von einem Übersetzungsteam umgesetzt worden: mit der Übersetzerin Uda Strätling, der Politikwissenschaftlerin Hadija Haruna-Oelker und der Schriftstellerin Kübra Gümüşay (ZK-05). Die Gelungenheit der Übersetzung wird unterschiedlich eingeschätzt (ZK-01 und ZK-02).

About the author(s)

Prof. Dr. Kirsten Schindler, lectures and researches in the field of linguistics/language teaching of German at the University of Wuppertal with a focus on text production. Her interests range from academic writing in school to professional and creative writing in various domains.

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©inTRAlinea & Kirsten Schindler (2022).
"Die Person sichtbar machen – Übersetzer:innen in Selbstauskünften"
inTRAlinea Special Issue: Embodied Translating – Mit dem Körper übersetzen
Edited by: Barbara Ivancic and Alexandra L. Zepter
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