Mit | Gefühl bei der Übersetzung

Literaturwissenschaftliche und lesepsychologische Perspektiven zur literarischen Übersetzung

By Daniela A. Frickel (University of Cologne, Germany)

Abstract

The article presents concepts from literary studies and reading psychology from the German research context to capture the relation of literature and emotion, which show reflection dimensions for translation studies. With reference to Thomas Anz’s model of literary communication, aspects of the production and reception of literature are perspectivized, as well as the emotional potential of the texts themselves. Emotionalization strategies and intentions can thus be reconstructed through authorial poetics and other contemporary documents. Their reflections in the work can then be examined with regard to elements that may be responsible for fictional emotions or artifact emotions during reception. This reconstruction and analysis thus provides starting points for systematically including the emotion factor in translation.

Keywords: literary translation, literary theory, literary communication, emotion potential, fiction emotions, artifact emotions

©inTRAlinea & Daniela A. Frickel (2022).
"Mit | Gefühl bei der Übersetzung Literaturwissenschaftliche und lesepsychologische Perspektiven zur literarischen Übersetzung"
inTRAlinea Special Issue: Embodied Translating – Mit dem Körper übersetzen
Edited by: Barbara Ivancic and Alexandra L. Zepter
This article can be freely reproduced under Creative Commons License.
Stable URL: https://www.intralinea.org/specials/article/2603

Die Emotionsforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der damit evozierte emotional turn in den Wissenschaften hat in den 1990er Jahre neue Perspektiven für kultur- und literaturwissenschaftliche Forschungen eröffnet. Diese weisen einen Konnex mit der Historischen Anthropologie auf, insofern hier „der menschliche Körper und seine Sinne als Schnittstellen zwischen Natur und Kultur“ (Anz 2007: 208) erachtet wird. Emotionen werden seitdem als besonderer Faktor im Prozess literarischer Kommunikation theoretisch modelliert und empirisch untersucht. Der Fokus wird dabei auf Emotionen bei der Produktion und Rezeption von Literatur gelegt und – meist im Zusammenhang damit – die Literatur selbst hinsichtlich ihres Emotionspotentials untersucht. Dabei bildet die Literatur nicht nur Reize für Emotionalisierung, sondern scheint zugleich prädestiniert dafür, „emotionale Zustände alltagssprachlich zu fassen“ (Koppenfels/Zumbusch 2016: 7) sowie „Gefühlsbegriffe und Konventionen“ zu artikulieren und zu prägen (ebd.: 12), was ebenfalls perspektiviert wird.

Die Emotionsforschung hat sich in den letzten Jahren auch in den Translationswissenschaften – insbesondere im Rahmen der so genannten Cognitive Translation Studies – einen bedeutenden Platz verschafft. Ausgehend von Erkenntnissen der Neurowissenschaften wird hier der Frage nachgegangen, welche Rolle die Emotionen im Übersetzungsprozess spielen (können) und wie sie sich auf die Interaktion zwischen den am Übersetzungsprozess Beteiligten und deren physischem Umfeld auswirken (s. z.B. Rojo López 2016; 2018; Hubscher-Davidson 2018).[1] Der in den 1980er Jahren entwickelte soziopsychologische Begriff der emotionalen Intelligenz spielt eine zentrale Rolle in diesem Forschungsfeld. Verstanden wird darunter die individuelle Fähigkeit, eigene und fremde Gefühle wahrzunehmen, zu verstehen und daraus Informationen für das eigene Denken und Agieren abzuleiten (für eine Diskussion über die Begriffsdefinition, s. Hubscher-Davidson 2013: 325-328) ─ wodurch sich die interessante Frage ergibt, inwieweit sich Übersetzen und emotionale Intelligenz gegenseitig beeinflussen und ggf. unterstützen können. Die kognitiv orientierte Translatologie untersucht die Frage aus der Perspektive der im Übersetzungsprozess erforderten und erbrachten kognitiven Leistungen (vgl. Hubscher-Davidson & Lehr 2021).

Der vorliegende Beitrag fokussiert dagegen auf den Text als Emotionalisierungsquelle und -potential und versucht zu zeigen, welchen Beitrag literaturwissenschaftliche Begrifflichkeiten leisten können, um dieses Potential auszuloten und für die literarische Übersetzung brauchbar zu machen. Dazu werden ausgewählte Theorien und Modelle der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung und lesepsychologische Konzeptualisierungen und Befunde skizziert, um daraus Ansätze für die Literaturübersetzung abzuleiten. Es wird davon ausgegangen, dass der*die Übersetzende in der Rolle als Co-Autor*in zugleich als Emotionalisierte*r wie als Emotionalisierende*r (re)agiert, wenn er*sie die Aufgabe verfolgt, mehr oder weniger bekannte bzw. fremde Emotionen und ggf. Emotionalisierungsabsichten, zumindest aber dahingehendes Wirkungspotential in eine andere Sprache zu übersetzen.

Emotionen als Faktor im Modell literarischer Kommunikation

Um systematisch untersuchen zu können, wo und wie Emotionen im Prozess literarischer Kommunikation Einfluss nehmen (können), bietet sich die Modellierung von Thomas Anz an, der literarische Texte „als besonders komplexe Kulturtechnik der Emotionalisierung“ (Anz 2012: 157) auffasst. In seinem Kommunikationsmodell bezeichnet er den Urheber eines literarischen Textes als Reiz-Aktor, der eine Reiz-Konfiguration, sprich einen literarischen Gegenstand, hervorbringt, auf den die Rezipierenden als Reiz-Reaktoren reagieren und in ihrer Reaktion – wenn sie diese preisgeben, z.B. durch Lachen – ggf. selbst als Reiz-Konfigurationen wirken können.

Abb. 1: Emotionen als Faktor im Modell literarischer Kommunikation (Anz 2012: 166)

(1) Zu den Reiz-Aktoren

Es sind vor allem die Rhetorik und Autorpoetiken, die verdeutlichen, dass die Emotionalisierung eines Publikums Ziel literarischer Produktion sein kann. So erklärt bspw. Edgar Allan Poe in seinem Essay The Philosophy of Composition / Die Methode der Komposition (1846) sein Vorgehen in Abgrenzung von anderen Produktionsweisen:

Ich beginne lieber mit der Erwägung eines Effekts. Stets auf Originalität bedacht – denn man betrügt sich selbst, wenn man riskiert, auf eine so einleuchtende und leicht zugängliche Quelle des Interesses zu verzichten –, frage ich mich zunächst einmal: „Welches der unzähligen Effekte oder Eindrücke, für die das Herz, der Verstand oder (allgemeiner) die Seele empfänglich sind, soll ich im gegenwärtigen Falle auswählen?“ Habe ich mich für einen erstens neuartigen und zweitens überzeugenden Effekt entschieden, überleg ich, ob er am ehesten durch die Handlung oder durch die Tonart hervorzubringen ist – durch gewöhnliche Vorgänge und eine eigentümliche Tonart, oder umgekehrt, durch Eigentümlichkeit sowohl in Handlung wie in Tonart – und halte dann um mich herum (oder eigentlich in mir) Ausschau nach solchen Kombinationen von Begebenheiten oder Tonarten, wie sie mir zur Erzeugung des Effektes am dienlichsten sind. (Poe 1994: 197)

Nicht nur als Effekt, sondern konkret als „Regeln der Sympathielenkung“ liest und re-formuliert Anz Die Poetik (um 335 v. Chr.) des Aristoteles, die er als eine Poetik der Emotionalisierung auffasst (Anz 2014) und die in dieser Weise u.a. auch von Lessing in seiner Dramentheorie mit dem Fokus auf Mitleid als gewünschter Effekt revidiert wurde. Allerdings kann entgegen solchen rhetorischen Modellen im Sinne einer erlebnisästhetischen Konzeption der Produktion (Anz 2007, 220ff.) auch und vor allem der dahingehend absichtslose Text selbst als „Ausdruck affektiver Bewegung“ (Campe 1990, 472, zit. nach von Koppfenfels/Zumbusch 2016, 16) gelesen werden. Dafür steht auch die Methode einer Écriture automatique, wie sie vor allem von den Surrealisten Anfang des 20. Jahrhunderts projektiert wurde und die darauf abzielte, u.a. Gefühle quasi unzensiert in Sprache zu übersetzen. Der literarische Gegenstand kann demnach – ob dahingehend bewusst oder unbewusst verfasst – einen Emotionsausdruck sowie einen Reiz bilden, um Emotionen bei den Rezipierenden auszulösen. Ist Letzteres der Fall, spielen bei der Produktion Hypothesen über potentielle Rezipierende, deren Dispositionen und – wie Anz es im Modell nennt – „Annahmen über Wirksamkeit von Emotionalisierungstechniken“ eine Rolle, was für die Übersetzung rekonstruiert und mitreflektiert werden kann.

(2) Zum Reiz-Reaktor

Die*Der Übersetzende ist zunächst immer auch Lesende*r und damit Reiz-Reaktor. Nach Anz entwickelt dieser Annahmen über Emotionalisierungsabsichten, erkennt ausgedrückte und/oder dargestellte Emotionen, übernimmt diese ggf. und/oder reagiert darauf. Welche textseitig präsentierten Emotionen und Emotionalisierungsabsichten aber tatsächlich erlebt oder wahrgenommen werden, ist situations- und kontextabhängig und wird von der individuellen Disposition des Rezipierenden bestimmt, d.h. einem Komplex aus Vorwissen, persönlichen Erfahrungen und Einstellungen etc. Umso weniger die Rezipierenden dem impliziten Adressaten gleichen, so lässt sich vermuten, umso weniger gelingt die Emotionalisierung bzw. kann ggf. sogar den gegenteiligen Effekt erzielen, was Anz in Bezug auf Witze, die mit geschlechtlichen Stereotypen arbeiten, verdeutlicht (vgl. Anz 2012: 161).

Für das Ge- bzw. Misslingen literarischer Kommunikation muss aber nicht nur die Adressierung verantwortlich sein, sondern kann (im Zusammenhang damit) auch das Gefühlswissen bzw. Beherrschen des kulturellen Codes seitens des Rezipierenden sein. So verdeutlichen die kulturhistorischen Forschungen von  Ute Frevert, dass es sich bei Gefühlen nicht um eine „kulturunabhängige Universalie“ handelt: „Gefühle, steht zu vermuten, sind mehr als „spontane Wallungen“ und evolutionär geformte Triebe“, Gefühle „sind immer auch sprachlich verfasst und somit an Kultur und Gesellschaft gebunden.“ (Frevert 2013: 11-15) Ebenso wie die philosophischen Ausführungen von Eva-Maria Engelen (2007: 7–34) machen die historischen Analysen von Frevert deutlich, dass Emotionen zeit- und kontextgebunden sind und dass ein Wissen darüber produktions- wie rezeptionsseitige Prozesse beeinflusst. Frevert verdeutlicht das u.a. am Beispiel der Ehrverletzung in Theodor Fontanes Roman Effi Briest:

Die Zeiten, heißt es, ändern sich. Die Gefühle ändern sich mit ihnen. Als Theodor Fontane Effi Briest sterben ließ, waren die ‚Moralitäten‘ von Scham und Ehre streng und sanktionsbewehrt. Menschen mochten sich daran wundreiben und dagegen aufbegehren, aber ihre Geltungskraft blieb intakt und tödlich. Ginge heute jemand dafür in den Tod, bliebe nichts als Katzenjammer. (Frevert 2013: 81)

Wie vor allem auch die Arbeiten von Simone Winko zeigen, referieren literarische Texte insofern auch auf das „Kode-Wissen“ der Rezipierenden in Bezug auf Emotionen im Zusammenhang mit Normen ihrer jeweiligen Gesellschaft:

Emotionen sind kulturell kodiert. Diese Kodes repräsentieren das gemeinsame kulturelle Wissen über Emotionen, formen und kontrollieren die Wahrnehmung und den Ausdruck von Emotionen und prägen das Wissen über emotionsauslösende Situationen. Sprache ist ein Medium der Kodierung von Emotionen und zweifelsohne das für Literatur wichtigste. Kulturell geprägte, typisierte Emotionen sind in literarischen Texten sprachlich sowie in den Themen, Motiven und Situationen präsent, die in den Texten dargestellt werden. (Winko 2003a: 338; vgl. auch Winko 2003b, 141)

Winko zeigt dabei auch auf, wie sich „Emotionales“ in literarischen Texten „manifestiert“ (Winko 2003a: 337ff.) und unterscheidet als „Typen von Bezugnahme auf Emotionen“ die Thematisierung und die Präsentation. (Ebd.: 338) Um diese zu gestalten, „werden alle bekannten inhaltsbezogenen, sprachlichen und formalen Mittel herangezogen“ (ebd.: 339), wobei auf eine „Palette konventionalisierter Möglichkeiten“ bzw. „konventionalisiertem Sprachmaterial“ (ebd.: 341) zurückgegriffen werde. Damit sind wir bei der Reiz-Konfiguration, die sich dadurch kennzeichnet und dementsprechend differenziert hinsichtlich der Thematisierung und Präsentation von Emotion im Zusammenhang mit der ggf. beabsichtigten Wirkung literaturwissenschaftlich analysiert werden kann, wobei auch Erkenntnisse lesepsychologischer Forschungen einbezogen werden können.

(3) Zur Reiz-Konfiguration

Die Analyse der Reiz-Konfiguration hinsichtlich ihres Emotionspotentials verdient besondere Beachtung, da das Ge- oder Misslingen literarischer Kommunikation in der Konzeption begründet sein kann, in jedem Fall ist sie maßgeblich für Emotionalisierung im Akt literarischer Kommunikation. Anz konzentriert sich in seinem Ansatz einer literaturwissenschaftlichen Text- und Emotionsanalyse (LTE) (vgl. Anz 2007) auf Figuren und Handlung, die einen zentralen Reiz bilde. Die lesepsychologische Forschung unterscheidet allerdings dadurch evozierbare (1) Fiktionsemotionen von (2) Artefakt-Emotionen, die sich weniger auf inhaltliche als auf sprachliche oder formale Elemente im Zusammenhang mit dem Inhalt oder Thema der literarischen Darstellung beziehen. (Vgl. u.a. van Holt/Groeben 2006, Mellmann 2016) – Beide Ebenen sollen hier im Folgenden differenziert betrachtet werden:

Fiktionsemotionen

Als „Basistechnik literarischer Emotionalisierung“ nennt Anz die

Inszenierung von emotionstypischen Szenarien (Situationen etwas der

Bedrohung, des Verlustes oder der Wunscherfüllung) und der Darstellung von Figuren, die in diesen Szenarien involviert sind und denen dabei oft auch noch bestimmte Emotionen ausdrücklich zugeschrieben werden. (Anz 2012: 165)

Auf diese Weise evozierbare Fiktionsemotionen basieren, so Anz,

maßgeblich auf Mechanismen der Empathie, also auf der Fähigkeit und Bereitschaft, Emotionen anderer […] zu erkennen und auf sie mehr oder weniger distanziert oder identifikatorisch emotional zu reagieren. Die Empathie des Lesers kann sich dabei auf Figuren im Text (inklusive der des Erzählers oder des lyrischen Ichs) konzentrieren, aber auch die reale Person des Autors einbeziehen, wenn der Text als Ausdruck ihrer Emotionen wahrgenommen wird. (ebd.: 165. Vgl. auch van Holt/Groeben 2006: S. 122; s. allerdings auch kritisch dazu Mellmann 2016: 160–166.)

Insofern fokussiert Anz auf die im Modell sogenannte „Emotionale Figurenkommunikation“ (s.o.), deren Wirkung auf das emotionale Erleben beim Lesen sich mit Nadine van Holt und Norbert Groben in figuren- und personenbezogenen Emotionen differenzieren lässt, d.h. in Emotionen, die sich rezeptionsseitig auf die Figuren oder auf die Lesenden in ihrer Realität selbst beziehen. (van Holt/Groben 2006: 115ff.) In diesen beiden Gruppen, also fremd- sowie selbstbezogenen Emotionen, lassen sich überdies verschiedene Modi der Empathie differenzieren. So ist Perspektivenübernahme prinzipiell in einem eher rationalen Prozess möglich, jedoch auch durch Einfühlen in eine andere Figur oder Person oder durch Übernahme einer beobachteten Emotion.

Auch Kaspar H. Spinner (2013) konzentriert sich in einem literaturtheoretischen Beitrag auf Empathiestrategien und zeigt in einem diachronen Gang durch Beispiele der Literaturgeschichte weitergehend literarische Techniken auf, die ein „Empathieangebot“ leisten, insofern sie auf eine „Aktivierung des Emotionszentrums“ hinzielen. (Ebd.: 70) Aufschluss, wie Literatur „Empathie vermittelt“, gibt demnach eine Analyse folgender Aspekte, die Sympathie bzw. Antipathie lenken, was man sich z.B. an der Odyssee vergegenwärtigen mag:

(1) die Konstellation von Held- und Gegenspieler ─ in der Odyssee Odysseus und die Freier seiner Frau Penelope;

(2) die ggf. präsentierten Lebensgeschichten der Figuren ─ im Beispiel die Umstände von Odysseus‘ Lebens durch den Trojanischen Krieg und die Widrigkeiten seiner Heimreise;

(3) die Komplikation und Dilemma-Situationen ─ in der Odyssee die herausfordernden Abenteuer, die Odysseus bewältigt;

(4) narrative Mittel der Innensicht ─ etwa Odysseus, der neben dem auktorialen Erzähler als Erzähler seiner eigenen Geschichten fungiert;

(5) die räumliche Atmosphäre sowie die Leiblichkeit, die für die Darstellung von Gefühlszuständen von Figuren bedeutsam sein kann und damit Angriffsfläche für emotionale Empathie bildet ─ im Beispiel, wenn man u.a. an Odysseus‘ Begegnung mit den Sirenen denkt. (Spinner 2016: 189)

Artefaktemotionen

Für die Gestaltung der Reiz-Konfiguration können die Reiz-Aktoren zusätzlich auf bereits etablierte Formate zurückgreifen, die in dieser Perspektive als Kommunikate fungieren, wie gattungstheoretische Forschungen zeigen:

Stets sind einzelne Formen privilegierte Beziehungen mit einzelnen emotionalen Komplexen eingegangen: das Epos mit dem Zorn, die Psalmendichtung mit Triumph- und Schuldgefühlen, die Komödie mit Liebe und Eifersucht, die Tragödie mit Furcht und Mitgefühl, bestimmte lyrische Formen der Trauer, die Satire mit der Empörung, das Märchen mit der Angst etc. (von Koppenfels/Zumbusch 2016: 4)

Dabei ist zu berücksichtigen, dass solche ästhetischen Formen in unterschiedlicher Weise Einfluss auf die Rezeption nehmen können, d.h. zum Beispiel eine Erwartungshaltung etablieren, den Rezeptionsprozess dadurch ggf. auch vereinfachen oder aber erschweren, wenn die Erwartung irritiert oder gebrochen wird.

Emotionen, die durch solche besonderen Kompositionsweisen ausgelöst werden und die Aufmerksamkeit auf die Konzeption und den Stil legen, sind solche, die sich aus Sicht lesepsychologischer Forschungen als Artefakt-Emotionen bezeichnen lassen und hier im Zusammenhang mit dem sogenannten foregrounding (im Zusammenhang mit den Fiktionsemotionen bzw. dem backgrounding) untersucht werden können. (Vgl. van Holt/Groeben 2005) Hier sind – häufig im Zusammenhang mit dem Gattungsprofil – stilistische Auffälligkeiten zu entdecken, die die Aufmerksamkeit im Akt der Rezeption auf sich ziehen.

Dieser sogenannte Vordergrund bildet sich aus Stilmitteln, Tropen oder anderen Gestaltungsweisen, die Wiedererkennen sowie Verfremdung hervorrufen können (vgl. ebd. sowie Schrott/Jacobs 2011: 505). Seitens der Leseforschung wird inzwischen außerdem  die „emotionale Bedeutung“ von sogenannten „nichtrepräsentationalen Strukturen, wie etwa von Fokalisierungsverläufen […], Metrik, Wiederholungs- und anderen Formstrukturen“ hervorgehoben (Mellmann 2016:159, vgl. auch Mellmann 2017: 246). Während handlungsbezogene und figurale Elemente Emotionen thematisieren bzw. darstellen und damit bei der Rezeption z.B. in Form eines Mitfühlens oder Mitfieberns auffordern können, kann dieser im Hintergrund laufende, quasi automatische Prozess von Artefakt-Emotionen begleitet oder vielmehr konfrontiert und irritiert werden. Eine flüssige Rezeption wird dadurch ggf. unterbrochen und neue bzw. andere Emotionen können freigesetzt werden, die wiederum auch kognitive Prozesse aktivieren und damit Distanz schaffen (vgl. Schrott/Jacobs 2011: 505).

Um dahingehende Potentiale zu analysieren, können neben etablierten literaturwissenschaftlichen (insb. strukturalistischen) Analysemodellen auch sprachwissenschaftliche Ansätze hilfreich sein. Ein einzelnes Wort kann demnach bereits Emotionen auslösen, was verdeutlicht, dass „Texte schon im ersten Wahrnehmungsakt nicht neutral, sondern basal emotional semantisiert“ sind; „so lassen sich […] bereits aufgrund der Lexik mehr und weniger emotional besetzte, aufmerksamkeitsbindende Texte unterscheiden“ (Mellmann 2016: 162; vgl. auch Schwarz-Friesel 2013: 131f.). Laut Monika Schwarz-Friesel wird aber „das ,Emotionsprofilʻ (bzw. das Emotionspotenzial) eines Textes nie nur durch bestimmte Wörter determiniert […], sondern konstituiert sich maßgeblich durch textuelle Mittel und Strategien, die die Informationsstrukturierung und das gesamte Inferenzpotenzial betreffen“ (ebd.: 132). Neben „lexikalischen und syntaktischen Phänomenen der Emotionskodierung (bezogen auf die Kohärenzstruktur)“ (ebd.: 213) können für die dahingehende Analyse literarischer Texte auch satzübergreifende Phänomene von Bedeutung sein. Schwarz-Friesel weist dabei auf implizite oder explizite Bewertungen in Aussagen hin, die hinsichtlich der Emotionslenkung – narratologisch betrachtet – insbesondere durch Erzählstimmen (Modus und Stimme) virulent werden können.

Eine dahingehende Analyse der discours-Ebene, die unter Einbezug literatur- und sprachwissenschaftlicher Analysen Darstellungsweisen identifiziert, ermöglicht es, den Einfluss dieser Strukturen auf den Rezeptionsprozess zu antizipieren, insb. in Bezug auf mögliche Widerstände oder Irritationen. Aus der Analyse des Zusammenspiels von Dargestelltem und Darstellungsweise lassen sich so gesehen Prognosen bezüglich der ästhetischen Distanz ableiten, die sich bei der Rezeption zwischen den Polen Identifikation und Beobachtung bewegt. (Vgl. van Holt/Groeben 2006: 215)

Fazit

Was können also literaturwissenschaftliche und lesepsychologische Perspektiven für die Übersetzung von Literatur und Emotion leisten? Durch die Modellierung von Anz werden zunächst drei Reflexionsdimensionen entworfen: auf den Produktions- und Rezeptionskontext sowie auf das Emotionspotential des Textes selbst. So kann der Produktionskontext, die Autorpoetik und die autorseitige Antizipation des Rezeptionskontextes perspektiviert bzw. rekonstruiert werden. Dabei können Annahmen über zeitgenössische „intendierte und erwartete emotionale Reaktionen“ (Anz 2012: 159) ausgewertet und korrigiert werden. Historisch-politischen Kontexte, das Vorwissen bzw. Erfahrungen des speziellen Publikums mit Literatur und vor allem das Gefühlswissen bzw. diesbezügliche Konventionen müssen in diesem Zusammenhang mitbedacht werden.

In Bezug auf intendierte Emotionen spielt die Etymologie der Worte bei der Übersetzung eine besondere Rolle, vor allem Konnotationen im jeweiligen zeitlichen Kontext müssen sensibel reflektiert werden, um durch die Begriffswahl intendierten Reizen auch in der Übersetzung eine Wirkung zu ermöglichen. Eine in dieser Weise auf Emotionen fokussierte produktionsästhetische Analyse ermöglicht es den Übersetzenden, zugleich die aktuelle Wirkung auf sich selbst von der zu rekonstruierten Emotionalisierungsabsicht zu relativieren, um eine werkgetreue Übersetzung vorzubereiten.

Dafür muss natürlich auch der Text selbst hinsichtlich seines potentiell intendierten sowie bei den Übersetzenden realisierten Emotionspotentials differenziert und genau analysiert werden. Zunächst kann der Text hierfür grundsätzlich hinsichtlich der Gattung und den damit verbundenen Emotionalisierungsabsichten perspektiviert werden. Untertitel, die die Gattung ausweisen, können z.B. eine Erwartungshaltung auf Seiten der Rezipierenden evozieren, die bei der Lektüre vom tatsächlichen Inhalt des Textes bestätigt oder düpiert wird und damit Emotionen beim Lesen evozieren. Die Aspekte von Spinner machen es möglich, bei der Übersetzungtextseitige Strategien der Emotionalisierung zu vergegenwärtigen, um dem Wirkungspotential dieser Strategien auch in der Übersetzung Geltung zu verschaffen. Dabei sollten auch die seitens der lesepsychologischen Forschungen hervorgehobenen textseitigen Merkmale für sogenannte Artefakt-Emotionen aufgefasst und bestmöglich ,übersetztʻ werden.

Literatur

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van Holt, Nadine/Groeben, Norbert (2005) „Das Konzept des Foregrounding in der modernen Textverarbeitungspsychologie“ in Journal für Psychologie, 13 (4): 311–332 (https://nbn-resolving.org/urn:nbn🇩🇪0168-ssoar-17132)

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Noten

[1] Es handelt sich dabei um ein weites Forschungsfeld, wie die vielen Themen zeigen, die bei der letzten 2021 stattgefundenen Konferenz der International Association for Translation and Intercultural Studies (IATIS) unter dem Panel-Titel „Emotional Translation Ecology“ vorgestellt und diskutiert wurden. (Siehe: https://www.iatis.org/index.php/7th-conference-barcelona-2021/item/2242-panels#P3)

About the author(s)

Dr. Daniela A. Frickel is a senior lecturer at the Institute for German Language and Literature II at the University of Cologne. Her research focuses on questions of literature didactics and inclusion, especially emotions in the process of linguistic-literary learning, text complexity as well as children's and youth literature and its didactics.

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©inTRAlinea & Daniela A. Frickel (2022).
"Mit | Gefühl bei der Übersetzung Literaturwissenschaftliche und lesepsychologische Perspektiven zur literarischen Übersetzung"
inTRAlinea Special Issue: Embodied Translating – Mit dem Körper übersetzen
Edited by: Barbara Ivancic and Alexandra L. Zepter
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