Die Zweisprachigkeit der slowenischen Literatur in Österreich als Ausdruck zweifacher Identität

By Silvija Borovnik (University of Maribor, Slovenia)

Abstract

English:

Slovenian Literature in Austria finds itself intently at the crossroads of regional and national traditions, historical and modern cultural and national identities. Many well-known scholars have written about these issues in their texts which were first published in the sixties of the previous century. At that time a journal Mladje published literary contributions and provocative recordings of political, linguistic and cultural questions. Some of the literary historians and linguists occupied themselves with the notion of bi- and multilingualism in literature and with the issues of translation, as in mentioned co-text, on numerous examples from Slovenian literature, which were written in the so-called land between the Alps and the Adriatic - in Austrian Carinthia. This study explores bi- and multilingualism of particular female and male authors. It examines demanding literary texts, in which not only native language manifests itself, but also another language (for example German) or dialect appears. These literary translations also express linguistic-stylistic mastery.

An example of such literature presents itself in Maja Haderlap's debut Novel Engel des Vergessens/ Angel pozabe/ Angel of Oblivion (2011). This is a work of a Slovene author who had published Slovene Poetry until last year, when she wrote a prose literary work in German (not her native language), which is the language of her social environment and education. This literary work expresses the so-called linguistic duality as an intercultural reality and a new dimension of life as reflected in Haderlap's work. Linguistic duality in this novel expresses transformation of intercultural dialogue as well as cultural and historical trauma. Within Haderlap's writings we come across a theme of conflict between two cultures in the time of fascism.

German:

Seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist das Thema der slowenischen Literatur in Österreich, als ein Beispiel regionaler und nationaler Traditionen, bzw. moderner kultureller und nationaler Identität(en) von zahlreichen Autoren thematisiert worden. Diese Literatur besteht nicht nur aus der Literatur der sog. autochthonen Kärntner Slowenen (Janko Messner, Florjan Lipuš, Maja Haderlap, Cvetka Lipuš, Fabjan Hafner u.a.), sondern auch aus der Literatur aller anderen Slowenen, die sich aus persönlichen oder politischen Gründen in Österreich niedergelassen haben (Vinko Ošlak, Anita Hudl, Lev Detela, Milena Merlak-Detela). Zugleich geht es in allen Fällen um eine Literatur, die nicht nur auf sich selbst fixierte, vollkommen intime Welten Einzelner, verfasst in einer winzigen slawischen Randsprache, dem Slowenischen, beschreibt, sondern wir haben es mit Musterbeispielen der Interkulturalität in der Literatur zu tun, wie sie zahlreiche andere europäische und nicht europäische Staaten kennen. Im Mittelpunkt vorliegender Untersuchung steht das Debutwerk von Maja Haderlap Engel des Vergessens/ Angel pozabe/ Angel of Oblivion (2011). Das literarische Werk der Autorin drückt die ganze Dualität der schriftstellerischen, künstlerischen und menschlichen Identität und zugleich die Besonderheiten des interkulturellen Dialogs in diesem Raum aus.  Die linguistische Dualität dieses Werk reflektiert neue Dimensionen kultureller und historischer Traumata in einem interkulturellen Dialog.

Keywords: Slovene literature, slowenische Literatur, linguistic duality, intercultural dialogue, double identity, historical trauma, linguistische Dualität, interkultureller Dialog, historisches Trauma, doppelte Identität

©inTRAlinea & Silvija Borovnik (2016).
"Die Zweisprachigkeit der slowenischen Literatur in Österreich als Ausdruck zweifacher Identität"
inTRAlinea Special Issue: The Translation of Dialects in Multimedia III
Edited by: Koloman Brenner & Irmeli Helin
This article can be freely reproduced under Creative Commons License.
Stable URL: https://www.intralinea.org/specials/article/2187

Die slowenische Literatur in Österreich ist eines meiner Forschungsgebiete, und ich habe über sie in der Vergangenheit schon einiges geschrieben bzw. auf diversen Symposien und Kongressen berichtet (Borovnik 1989/90, 1995, 1997, 2000, 2002, 2004, 2006, 2008). Meine Beschäftigung mit ihr begann mit der Untersuchung der Literatur Florjan Lipuš’ und der Mitarbeiter der Zeitschrift mladje (Groteska v sodobni slovenski prozi, s posebnim ozirom na delo Florjana Lipuša [Das Groteske in der slowenischen Gegenwartsprosa, mit besonderer Berücksichtigung des Werks Florjan Lipuš‘], Magisterarbeit an der Filozofska fukulteta v Ljubljani, 1987, unveröffentlicht), und es weitete sich auf die Werke verschiedener Autoren und Autorinnen aus, die heute schon zur mittleren oder älteren Generation der slowenisch oder slowenisch-deutsch Schreibenden gehören. Dabei hob ich gern hervor, dass die slowenische Literatur in Österreich nicht nur aus der Literatur der sog. autochthonen Kärntner Slowenen besteht (Janko Messner, Florjan Lipuš, Maja Haderlap, Cvetka Lipuš, Fabjan Hafner u.a.), sondern auch aus der Literatur aller anderen Slowenen, die sich aus persönlichen oder politischen Gründen in Österreich niedergelassen haben (Vinko Ošlak, Anita Hudl, Lev Detela, Milena Merlak-Detela). Zugleich geht es in allen Fällen um eine Literatur, die nicht nur auf sich selbst fixierte, vollkommen intime Welten Einzelner, verfasst in einer winzigen slawischen Randsprache, dem Slowenischen, beschreibt, sondern wir haben es mit Musterbeispielen der Interkulturalität in der Literatur zu tun, wie sie zahlreiche andere europäische und nicht europäische Staaten kennen, natürlich jeder auf seine Weise und unter anderen Verhältnissen. Die Welt verändert sich nämlich ständig, neben der Literatur der einsprachigen Bevölkerung entstehen auch Texte der Zuwanderer und ihrer Nachkommen und auch aller anderen gegenwärtigen Migranten. Die wirklich große Frage ist, ob wir überhaupt noch in irgendeinem Staat von einer mononationalen, einsprachigen Literatur, von etwas wie einer Monokultur sprechen können.

„Eine Monokultur gehört zum Langweiligsten, mich erinnert sie an Fisolen“, hat Drago Jančar einmal in einem Gespräch geistreich angemerkt. Und es stimmt – dieses „mono“ hat etwas Isoliertes, Verschlossenes, auf sich Fixiertes, oft auch Intolerantes, Puristisches, Aggressives und sogar Gefährliches an sich. Die Kultur und mit ihr die Kunst sind aber schon von Natur aus „multi“, denn das macht ihr Wesen aus – und darum sind alle Erörterungen darüber, ob etwas „mono“ oder „multi“ sein soll, überflüssig. Die slowenische Literatur in Österreich aber befindet sich schon immer an einem spannungsgeladenen Berührungspunkt regionaler und überregionaler Traditionen, historischer und moderner, kultureller und nationaler Identitäten. Darüber haben viele Forscher und angesehene Universitätsprofessoren geschrieben – von Moritsch, Hafner, Prunč und Amann bis Kmecl, Koruza, Zadravec, Paternu, Glušič u. a. – aber auch die Literaten selbst, z. B. Fabjan Hafner, Maja Haderlap, Lev Detela, Vinko Ošlak, auf eigentümlich sonderliche Weise auch Peter Handke. Texte darüber erscheinen mindestens seit den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, als die Zeitschrift mladje startete, die nicht nur literarische Beiträge, sondern auch provokante Notizen zu politischen, sprachlichen und kulturellen Fragen im weiteren Sinn brachte und der es auch gelang, noch weitere, nichtslowenische Autoren zur Mitarbeit zu gewinnen. Eines der bekanntesten wissenschaftlichen Bücher, das die erwähnte Problematik behandelt, entstand an der Universität in Klagenfurt unter dem Titel Profile der neueren slowenischen Literatur in Kärnten2 (1998) und ist, unter der Herausgeberschaft von Johann Strutz und der Mitarbeit von Fabjan Hafner und Klaus Detlef Olof, das Werk verschiedener Autoren; ein anderes, ebenso ein Werk von Johann Strutz, gemeinsam mit Peter Zima, erschien unter dem Titel Literarische Polyphonie (1996).

In dem Werk Literarische Polyphonie (1996) befassen sich die Autoren und Herausgeber Strutz und Zima sowohl mit dem Begriff der Zwei- und Mehrsprachigkeit in der Literatur als auch mit der Problematik des Übersetzens im erwähnten Kontext, und zwar an zahlreichen Beispielen aus der Weltliteratur wie aus der slowenischen Literatur, die sich im österreichischen Teil Kärntens herausbildete, sowie der Literatur, die im sog. Raum zwischen Alpen und Adria entsteht. Mehrsprachigkeit und Übersetzung in den verschiedensten Bedeutungen dieses Worts sind für sie miteinander verbundene Erscheinungen. Der mehrsprachige Autor Paul Celan z. B. tritt oft als Übersetzer in Erscheinung, oder er meldete sich kritisch im Zusammenhang mit literarischen Übersetzungen seiner Zeitgenossen zu Wort. Sie bringen das Beispiel des Engländers Beckford, der seine Reisebeschreibungen und Tagebücher auf Englisch schrieb, den Roman über den Kalifen Vathek aber auf Französisch, in der Sprache, die er während seines Aufenthalts in Genf und später in London lernte. Sie schreiben, dass sich der Autor mit dem Gebrauch der Fremdsprache wahrscheinlich von seiner Obsession für die Sprache, der Muttersprache, freimachen wollte (Strutz, Zima 1996: 7) – und dieses Beispiel erinnert an den kürzlich erschienenen Roman von Maja Haderlap, die zwar Autorin slowenischer Lyrik ist, diesmal aber ein Prosawerk auf Deutsch veröffentlichte, das nicht ihre Muttersprache, sondern die Sprache ihrer sozialen Umwelt, der Bildung ist. Strutz und Zima führen noch andere, ähnlich gelagerte Beispiele an bzw. sie fragen sich, warum etwa Ivan Goll (der aus Slovenj Gradec im heutigen Slowenien stammte!) auf Französisch schrieb – vielleicht, weil das literarische Werk in der anderen Sprache ein anderes Leben zu leben beginnt, eine neue Identität erhält? (Strutz, Zima, ebd.) Sie schreiben von der sog. „sprachlichen Zweigleisigkeit“ und ziehen den Schluss, dass Mehrsprachigkeit und interkulturelle Wirklichkeit in der Tat eine neue Dimension sowohl des Lebens, das sie beschreiben, als auch im Verhältnis zum Leser zum Ausdruck bringen.

Was eventuelle Zweifel oder Schlussfolgerungen betrifft, dass Mehrsprachigkeit zur Sprachlosigkeit, zum Verlust der Muttersprache, zur Stummheit führt, halten sie jedoch fest, dass dem nicht so ist (Strutz, Zima 1996: 9). Allen Bedenken zum Trotz bedeutet Mehrsprachigkeit für sie „mehr“ und nicht „weniger Leben“, was aber nicht nur auf den Einzelnen als Autor zutrifft, sondern auf die Gesellschaft, die mit solchen Erscheinungen konfrontiert ist, als Ganzes. In diesem Kontext bringen sie das Beispiel des istrischen Städtchens Savudrija (Strutz, Zima 1996), das auf Italienisch Salvore heißt, doch die Bedeutung des Namens verdoppelt sich gewissermaßen, wenn er noch den anderen, kroatischen, slowenischen Kulturkontext bekommt. Gleich verhält es sich mit dem slowenischen Trst/dem österreichischen Triest/den italienischen Trieste; schon der Name allein verweist auf die kulturgeschichtliche Vielfalt der Stadt, auf die kulturelle Polyphonie. In der Stadt gibt es noch heute eine literarisch sehr aktive slowenische Minderheit. Auch mit solchen Phänomenen, schreiben Strutz und Zima, befasst sich die zeitgenössische Komparatistik. Sie beschäftigt sich mit der polyphonen Identität Europas, mit der Polyphonie ihrer Literatur.

Literatura in večjezičnost – Literatur und Mehrsprachigkeit – hieß 1994 ein Symposium, das die erwähnten Wissenschaftler an der Universität Klagenfurt organisierten. Dort ging es um stilistisch-linguistische Aspekte des literarischen Übersetzens, um die literarische Zwei- und Mehrsprachigkeit einzelner Autoren, vertreten waren aber auch unmittelbare Erfahrungen zweisprachiger Autoren (Fabjan Hafner, Fulvia Tomizza). Auf diesem Symposium referierten auch Forscher, die sich sowohl wissenschaftlich als auch praktisch mit der Übersetzung befassten, z. B. Klaus Detlef Olof, der viel aus der slowenischen Literatur, aber auch aus dem Kroatischen, Serbischen und Bosnischen ins Deutsche übersetzt hat, und der schon erwähnte Johann/Janez Strutz, der Literaturwissenschaftler, Komparatist, aber auch ein hervorragender Übersetzer aus dem Slowenischen ins Deutsche ist (Florjan Lipuš, Marjan Tomšič). Beide wurden in Österreich für ihre Übersetzungen auch ausgezeichnet, Klaus Olof zudem in Slowenien, (Johann Strutz in Deutschland). Beide übersetzten auch Autoren, in deren Werken neben der einen Schriftsprache (der Muttersprache, z. B. dem Slowenischen) auch andere Sprachen zum Zug kommen, seien es Dialekte (Lipuš, Tomšič), seien es Sprachen wie z. B. das Italienische und Kroatische und/oder der istrische Dialekt (Tomšič). Für gewöhnlich waren das sehr anspruchsvolle literarische Texte (etwa Lipuš' Stesnitev [Verdächtiger Umgang mit dem Chaos] oder Tomšič' Šavrinke [Die Frauen der Schaurinia]), darum zeugen ihre Übersetzungen von sprachlich-stilistischer Meisterschaft, aber sie werfen auch Fragen von den Grenzen der Übersetzbarkeit und von der Rolle des literarischen Übersetzers als Koautor des literarischen Textes in der Übersetzung auf.

Der Wissenschaftler Johann Strutz, der sich mit besonderer Akkuratesse mit der Literatur im Raum zwischen Alpen und Adria beschäftigt, vor allem mit der slowenischen in Österreich und mit der istrischen, stellt in seinem Text weiters fest, dass die zweisprachige Literatur nicht nur das Zusammenleben von Unterschieden, sondern auch kulturelle Konflikte zum Ausdruck bringt. Er schreibt über das Beispiel der Literatur Fulvio Tomizzas und Milan Rakovac’, in der die literarische Zweisprachigkeit sowohl das Abbild des interkulturellen Dialogs als auch kultureller und historischer Traumen darstellt. Bei Rakovac etwa begegnen wir dem Konflikt zweier Kulturen zur Zeit des Faschismus, und die Materada aus Tomizzas gleichnamigem Roman steht ebenso auch für die traumatische polyphone Identität Istriens (Strutz 1996: 15). Etwas Ähnliches, können wir fortfahren, teilt auch die slowenische Literatur in Österreich mit. Bei Janko Messner können wir schon in den frühen Skizzen und Novellen über das sehr unglückliche Verhältnis zwischen Slowenen und Österreichern lesen, zwischen der slowenischen und der deutschen Kultur in Kärnten, wir können über einen wahren „tauben Hain“ lesen, der zwischen den Kulturen und Nationen auf diesem Gebiet herrsche, und diese belastende Metapher wuchert bei Lipuš auf anspruchsvollem symbolischen Niveau nahezu in allen seinen Romanen, von Zmote dijaka Tjaža (Der Zögling Tjaž) über die Stesnitev (Verdächtiger Umgang mit dem Chaos) bis zum letzten, Boštjanov let (Boštjans Flug). Gleich verhält es sich bei Maja Haderlap und ihrem auf deutsch geschriebenen Debutroman Engel des Vergessens (2011), der nichts anderes beschreibt als einen schlimmen interkulturellen Konflikt zwischen den Slowenen und den Österreichern/Deutschen zur Zeit des Zweiten Weltkrieges in Kärnten, als die slowenischen Familien mit den Partisanen zusammenarbeiteten, die österreichischen/deutschen aber nicht, wobei diese Tatsache nach dem Krieg verwischt wurde und Österreich sogar zahlreichen Kriegsverbrechern Zuflucht bot. Über die Partisanenbewegung in Kärnten zu schreiben, bedeutet aber in einem Tabuthema zu stochern, weil die Partisanenbewegung in Österreich verunglimpft und kriminalisiert wurde und die Partisanen bis heute als „Banditen“ gelten. Haderlap stieß so mit dem Roman über die Zusammenarbeit ihrer Familie mit den Partisanen in das Wespennest der Tabus, auf Deutsch aber schrieb sie ihn vielleicht auch, damit die mehrheitliche Volksgruppe leichter und unmittelbarer, ohne Übersetzung, in den Spiegel schauen kann. Und so über die Koexistenz zweier Kulturen auf dem Gebiet des österreichischen Kärnten wie auch über die historischen Verbrechen des einen, d. h. des deutschen, über das andere, d. h. das slowenische Volk nachdenken kann.

Über eine ähnliche Problematik haben in der Vergangenheit, jedoch auf Slowenisch, auch Messner und Lipuš geschrieben. Von Lipuš stammt z. B. das „Nonstop-Drama“ Škornji (Die Stiefel), das vom Verbrechen der Faschisten an der Peršman-Familie in Eisenkappel/Železna Kapla, erzählt. Als überaus tragisches autobiografisches Leitmotiv aber ist in seinen literarischen Werken das Motiv der Mutter präsent, die während des Krieges wegen Kollaboration mit den Partisanen noch ganz jung den nicht herangewachsenen Kindern geraubt, ins Konzentrationslager deportiert und dort umgebracht wurde. Alle erwähnten Autoren zeigten mit ihren Werken, wie Zweisprachigkeit und die heute populäre „Multikulturalität“ in der Geschichte nicht nur glückliche Koexistenz bedeuteten, sondern auch die Grundlage für brutalste, sogar unbestrafte Verbrechen boten. – Doch sind Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit wenigstens heute glückliche Realität? Das ist eine Frage, die angesichts der gegenwärtigen politischen Vorgänge nicht nur weltweit, sondern auch im Zentrum Europas, auch in Slowenien, von sich aus eine eindeutige Antwort anbietet: Nein. All das, inmitten einer erregenden und interessanten interkulturellen Buntheit, bringt auch die slowenische Gegenwartsliteratur in Österreich zum Ausdruck.

Strutz schreibt weiteres über das zweisprachige literarische Werk Fabjan Hafners, des Dichters, Publizisten, Übersetzers, Germanisten und Slowenisten. Als ich Lektorin für slowenische Sprache an der Universität Graz war, begann Fabjan Hafner erst Slawistik und Germanistik zu studieren und er besuchte auch Übersetzungsübungen und Vorlesungen auf dem Übersetzer- und Dolmetschinstitut. Er war ein sehr belesener, neugieriger, lebenslustiger und geistreicher, dabei aber auch unglaublich fleißiger Student. Aus der Masse der anderen trat er in jeder Hinsicht hervor, natürlich durch seine Begabung, durch die kennerhafte Begeisterung für die Welt der Literatur. Man wusste, dass er schreibt, und man wusste auch, dass er übersetzerische Ambitionen hat. Im Gegensatz zu anderen Studenten, die aus Kärnten kamen und das übliche slowenische Gymnasium hinter sich hatten, hatte Fabjan Hafner aber nicht am slowenischen, sondern am einsprachigen deutschen Gymnasium in Klagenfurt maturiert. Doch er entstammte einer slowenischen Familie im Rosental, und mit seinen Slowenischkenntnissen, seinem neugierig-kreativen Zugang zur Sprache, übertraf er bei Weitem alle anderen Kärntner slowenischen Studenten. Später wurde er Deutschlektor an der FF in Ljubljana, hielt auch Vorlesungen an der Klagenfurter Universität und schloss sein Studium mit dem Doktorat ab. Hafner ist heute einer der bekanntesten Literaten und literarischen Übersetzer im österreichischen Teil Kärntens. Sein zweisprachiges literarisches Werk können wir genauso zur slowenischen wie zur deutschen Literatur zählen. Fabjan Hafner, schreibt auch Strutz (1996: 15), ist das typische Beispiel für eine zweifache literarische Identität, die sich, wie die Literatur in diesem Raum generell, allen Vereinheitlichungsversuchen entzieht, die aber auch eine bestimmte sprachliche, literarische und kulturelle Fremdheit zum Ausdruck bringt. Nicht selten nämlich übersetzt Fabjan Hafner seine eigenen slowenischen Gedichte ins Deutsche und seine Deutschen ins Slowenische. Auch so thematisiert er die Koexistenz zweier Sprachen, Literaturen, zweier Kulturen. In den Übersetzungen, schreibt Strutz, ist nämlich alles gleich und trotzdem immer wieder auch anders (Strutz 1996: 15).

Zahlreiche andere Forscher schreiben von „Interkulturalität“ mit verschiedenen Inhalten, untersuchen die Beziehungen zwischen dem „Fremden“ und dem „Heimischen“, Phänomene der Begegnung von Kulturen und ihrer Rollen, wobei einige auch Einsicht nehmen in Fragen von Macht und Herrschaft in der Geschichte (Michael Hofmann, Homi Bhabha, Franziska Schossler, Vera Nunning, Peter V. Zima u. a.) und auch Migrationsphänomene und postkoloniale Konstellationen behandeln. In unserem Fall muss man bei Berücksichtigung der Verhältnisse, in denen sich die slowenische Literatur in Österreich entwickelte, z. B. die automatische Position der minderwertigen slowenischen Literatur im Verhältnis zu allem, was in der Geschichte deutsch war, und die daraus hervorgehende äußerst schmerzhafte Beziehung kennen. Die neuere interkulturelle Wissenschaft aber beschränkt sich nicht auf die nationale Perspektive, sondern interessiert sich für interkulturelle Prozesse, die z. B. bei der Konfrontation deutscher Leser und Leserinnen mit der „fremden“ Literatur entstehen, wobei im weiteren Kontext auch die Erforschung ihres Verhältnisses zu den nichteuropäischen Literaturen einen immer höheren Stellenwert einnimmt (Hofmann 2006: 8).

In Österreich spielte für den kraftvollen Durchbruch der slowenischen Literatur in den deutschsprachigen Raum der Wieser Verlag, neben Mohorjeva (Hermagoras) und Drava, eine außerordentlich wichtige Rolle, der sich mit besonderer Aufmerksamkeit vor allem den sog. Literaturen der Ränder widmete, eine eigene Buchreihe mit dem Titel Europa erlesen herausgab und -gibt und mit der Herausgabe zahlreicher literarischer Werke verschwiegener Autoren und Autorinnen von den anonymen Rändern des mitteleuropäischen Raums in deutscher Sprache begann, z. B. auch albanischer, bulgarischer, rumänischer, bosnischer, sorbischer, nicht nur slowenischer Autoren. Er entdeckte damit dem deutschen Leser bislang nicht existente Künstler aus der Welt der Literatur und ermöglichte Übersetzungen aus Sprachen, die es auf der literarischen Landkarte Europas sozusagen nicht gab. Alles in dem Bewusstsein, dass uns durch das Kennenlernen fremder Kulturen und Literaturen, Künste, die eigene Beschränktheit und eigentlich Kleinheit klar zu werden beginnt, mögen wir auf der Zahlenkarte Europas bzw. der Welt noch so groß sein. In einem kürzlich erschienen Interview für die Pogledi stellte Lojze Wieser folgende Überlegung an: „Europa hat viele Minderheiten, zweihundert autochthone Sprachen leben in 49 Staaten, dazu kommen zweihundert Migrantensprachen. In jedem Staat, der sich als Nationalstaat definiert, gibt es vier autonome und vier migrantische Minderheiten, jeder Staat hat im Durchschnitt acht Minderheiten. Somit sind die Minderheiten die Mehrheit, die Mehrheit aber die Minderheit.

Von Slowenien, das nach Jahrhunderten zum ersten Mal die Chance auf einen eigenen Staat bekommen hat, würde ich erwarten, dass es diese Erfahrung in Europa einbringt, dass es sagt: wir haben schon davor, seit Trubars Zeiten, in Form der Sprache und der Kultur gelebt, unabhängig davon, ob wir ein Staat waren oder nicht. Unsere Erfahrung, mit Sprache und Kultur zu überleben, wäre für Europa außerordentlich interessant: wie ein Europa bauen, das allen Kulturen, von den Kataloniern über die Basken, Iren, Serben, Romi, Bosnier, Mazedonier, Slowaken, Russen, bis zu den Deutschen, Slowenen … einen Platz unter der Sonne gäbe?“ (Wieser in Pogledi, 14.9.2011, S. 27). Lojze Wieser, der kaum zwanzig Jahre alt war, als er eine eigene Druckerei gründete, übernahm später den Verlag Drava und die Buchhandlung Naša knjiga. Schon mehr als zwanzig Jahre sorgt er systematisch für die Übersetzung slowenischer Literatur ins Deutsche. Mit zweiunddreißig gründete er den eigenen Wieser Verlag, bei dem auch Übersetzungen aus dem Deutschen ins Slowenische erschienen (z. B. Peter Handkes Wiederholung in der Übersetzung von mir und K. D. Olof unter dem Titel Ponovitev). Nach Ausbruch des Jugoslawienkrieges sorgte er für Schriftstellerfamilien in der Emigration und gründete die Bosnische Bibliothek. Er arbeitete fleißig, mit Aufs und Abs, aber unablässig auf dem Feld der Integration verschiedener Kulturen, Künste und der Achtung nationaler Identitäten. Er entfaltete eine interkulturelle Aktivität schon zu Zeiten, als dieser Terminus noch nicht in Mode war bzw. als es ihn noch gar nicht gab.

Mit dem Erkennen des Fremden aber bildet sich auch die kritische Reflexion der heimischen, für gewöhnlich zu selbstverständlich eindeutigen Erscheinungen heraus. Über die Bilder des Fremden und der Fremdheit beginnt sich nicht selten auch der heimische literarische Kanon zu verändern. Im zentralslowenischen literarischen Raum können wir solche Einflüsse z. B. in der Literatur von Brina Svit, Erica Johnson Debeljak, Maruša Krese, Goran Vojnović und einigen anderen sehen. Im weiteren Europa aber ist die Literatur der Migranten ein ähnlicher Fall, wurden doch einige deutsche Bestseller von Kindern von Zugewanderten und Asylanten, Bosniern, Kroaten oder Türken, geschrieben, von der jungen Generation, die in Deutschland aufgewachsen ist, wohin ihre Eltern aus ökonomischen Gründen oder vor Kriegen geflohen waren. Es macht keinen Sinn, sich zu fragen, um wessen Literatur es geht – das sind Beispiele deutscher Gegenwartsliteratur mit unterschiedlichen Wurzeln. In ihren Literaturen entstehen Zwischenräume, die nicht eindeutig sind, vielmehr geht es um interessante Beispiele interkultureller Kommunikation. Aktuelle literaturwissenschaftliche Untersuchungen erstrecken sich so auf die Untersuchung all dessen, auf die Analyse der Verhältnisse von Macht, Herrschaft, Geschlechterrollen usw., die in der Literatur der neuzeitlichen nationalen Minderheiten, welche ihren Lebensmittelpunkt getauscht und sich im Ausland niedergelassen haben, Gestalt annehmen. Es geht um die Erforschung ihrer „hybriden Identitäten“, einer Art „Patchwork“ (Hofmann 2006: 13). Der Gegenstand solcher Untersuchungen sind verschiedene mehrdeutige Texte: „Der kulturelle Wert des literarischen Textes [...] ergibt sich aus seiner Mehrfachkodierung innerhalb einer plural verstandenen Welt“ (Hofmann 2006: 13).

Die Literaturwissenschaftler schreiben von „Fremdheit als Resonanzboden des Eigenen“, von „Fremdheit als Gegenbild“ (Hofmann 2006: 22). Aus allem Gesagten entstehen sog. „kodierte, komplexe Identitäten“, die Literatur aber denkt und arbeitet alle diese Prozesse durch, thematisiert und reflektiert sie in einer symbolischen Sprache und einem symbolischen Kanon.

Ein anschauliches Beispiel für alles Gesagte ist der auf Deutsch geschriebene Erstlingsroman Engel des Vergessens (2011) der in Klagenfurt lebenden Maja Haderlap (1961), für den die Autorin, sonst slowenische Lyrikerin, heuer den prestigeträchtigen, alljährlich in Klagenfurt verliehenen Bachmann-Preis erhielt. Ihr literarisches Werk drückt die ganze Dualität der schriftstellerischen, künstlerischen und menschlichen Identität und zugleich die Besonderheiten des interkulturellen Dialogs in diesem Raum aus. Davon, dass der Text etwas Besonderes ist, zeugt auch die Tatsache, dass der Roman bisher in 100.000 Exemplaren gedruckt wurde, dass der Roman ein Beststeller ist, dass die Leute ihn massenhaft lesen. Maja Haderlap thematisierte damit offenbar etwas, das den Slowenen die ganze lange Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg auf der Seele lag, und sie teilte einiges mit, das lange zurückgehalten und verschwiegen wurde, das aber, wie alles Traumatische, endlich heraus musste.

Haderlap war nach dem Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik im Stadttheater Klagenfurt angestellt, sie arbeitete auch als Vertragsbedienstete an der Klagenfurter Universität, und sie gab ihre Arbeit nur auf, um in Ruhe ihren Roman schreiben zu können. Sie schrieb ohne Unterbrechung drei Jahre daran. Sie wusste von Anfang an, dass sie ihn auf Deutsch und nicht auf Slowenisch schreiben würde, was unsere Prognose bestätigt, dass der Ausdruck in der fremden Sprache, die nicht die Muttersprache des Autors/der Autorin ist, dieser auch eine Art Befreiung und Distanz zum Gesagten bietet. Darüber schrieb in ihrem Erstling, dem Kurzroman Moren, den die Autorin auf Französisch schrieb und danach ins Slowenische übersetzte, auch Brina Svit, nämlich, dass ihr die Fremdsprache die Äußerung über Themen und Schmerzen erlaubte, über die sie in der Muttersprache nicht unbelastet hätte schreiben können. Haderlap gab nach Lipuš' Abschied vom mladje diese Zeitschrift heraus, sie blieb aber auch sonst die ganze Zeit über mit dem slowenischen literarischen Leben in Kärnten verbunden. Ihre Lehrer in der Volksschule waren z. B. Florjan Lipuš und Valentin Polanšek, beides slowenische Schriftsteller bzw. Dichter, die die Jüngeren dazu erzogen, dass Schreiben in slowenischer Sprache auch die Bewahrung des Slowenischen vor dem Aussterben bedeutet.

Schon die slowenische Poesie Maja Haderlaps, die sonst im Umfeld der traditionellen slowenischen Dörflichkeit ihrer Kindheit und Jugend verortet ist, drückte auch den Bruch mit dieser Welt des Archaischen aus, den Weggang von Zuhause, die Suche nach dem weiblichen Gesicht und der weiblichen Identität, aber auch das soziale und nationale Schicksal der Verwandtschaft, ihrer engeren Familie. In ihrer Poesie waren keinerlei agitatorische Töne zu bemerken, nur die schmerzhafte Existenz, ausgespannt zwischen Slowenen- und Deutschtum, zwischen Zurücklassen und Zugehörigkeit. Den Stoff für ihren Roman schöpfte sie aus den Gesprächen mit den Verwandten, mit Kärntner Slowenen, die die Zeit des Nazismus und des Partisanenwiderstands überlebten. Sie wuchs auf einem Hof in Leppen/Lepena bei Eisenkappel/Železna Kapla auf. Sie hörte den Erzählungen der Großmutter zu, die das Lager Ravensbrück überlebt hatte, während ihr Großvater, der Vater und der Onkel Partisanen waren. Mit der Partisanenbewegung war fast jede Familie in Eisenkappel verbunden. So spürte sie schon als Kind, wenn auch über Erzählungen, was der Krieg für die Leute bedeutete, was für Not er ihnen verursachte und was für verbrecherische Taten ihnen von Seiten der Nazis zuteil wurden (ihr Vater wurde gefasst und gefoltert). Diese ganze Problematik, von der Österreich nach dem Krieg so tat, als gäbe es sie nicht, bearbeitete Haderlap literarisch in deutscher Sprache. „Ich wollte diese Geschichte nicht nur den Kärntner Slowenen nahebringen, die ihre Geschichten kennen, sondern auch dem österreichischen Raum“, sagte die Autorin in einem ihrer Interviews. Und: „Gleichzeitig disziplinierte mich das Deutsche auch und hielt mich auf Distanz zur Handlung. Als ich spürte, dass mich die Sprache vor Dingen schützt, die sehr schmerzhaft sind, wusste ich, dass das das Richtige ist. Auf Slowenisch hätte sich mir das Material unter den Emotionen zersetzt.“ Für sie bedeutete das Deutsche einen „Schild“, eine Art Verteidigungswall.

Weiters sagte sie, dass das Echo auf ihren Roman so unwahrscheinlich war, wie es sich jeder Schriftsteller nur wünschen kann. Auch die, die sonst gar keine Literatur lesen, lesen ihn, und auch solche, die ihre Wurzeln suchen, Österreicher, die die eigene Geschichte bisher nicht in diesem Licht kannten. Für sie war das, erzählt die Autorin, eine „verborgene Geschichte“. Der Roman hat somit neben der künstlerischen auch eine starke bewusstseinsbildende und Zeugnis ablegende Funktion:

[...] die Partisanen hatten in Österreich einen völlig anderen Status als in Jugoslawien, wo sie Heroen waren; hier galten sie als Mörder und Heimatverräter. Ein paar Tage nach dem Krieg bedankte sich Österreich wohl bei den Partisanen für ihren Kampf gegen den Nazismus, dann aber kam es zu ideologischen Komplikationen, weil Tito den Anschluss Kärntens an Jugoslawien forderte, was nicht einmal die Verbündeten unterstützten, die Folge dieser Forderung aber war, dass Österreichs Rechte unseren antifaschistischen Widerstand zum Heimatverrat erklärte; auf einmal erklärten sie sich zu Kämpfern für die Heimat, und sie seien es schon die ganze Nazizeit über gewesen! Hier ging alles drunter und drüber, die Folge war die totale politische Erstarrung Kärntens, auch seiner linken Option, sodass man nirgends mehr die slowenische Stimme hörte und die Nazis sich die Hände reiben und ihr Wirken während des Krieges zudecken konnten. Die offizielle österreichische Politik aber hatte nicht den Willen, damit aufzuräumen“, sagte Maja Haderlap in einem Interview für den Dnevnik (27.8.2011). In diesem Interview sagte sie auch, dass der Stoff für den Roman autobiografisch, wenn auch natürlich fiktiv überarbeitet sei, und dass ihr Roman-„Ich“ nur das Medium sei, das die Geschichte erzählt. Interessant aber ist, dass in dem sonst auf deutsch verfassten Roman ein Teil eines Gedichts, das der Vater als Kind geschrieben hat und das auf eigenartig groteske Weise von der Gewalt, dem Zentralthema dieses Romans, zeugt, auf Slowenisch vorkommt: „Ko pasel sem jaz kravce, je prišel policist, v oreh me obesil in mislil, da sem list (Haderlap 2011: 268). (Als ich die Kühe hütete, kam ein Polizist, er hängte mich in einen Nussbaum und dachte, ich sei ein Blatt.)

Aus dem deutsch geschriebenen Roman ist klar ersichtlich, dass sich die ganze Handlung in der slowenischen Welt abspielt und dass Slowenisch die Muttersprache der Erzählerin ist. Der Roman beginnt mit der Erinnerung an ihre Kindheit und die Zeit ihres Aufwachsens, an den noch sicheren Hort im Kreise der Familie, in der auf Slowenisch gesprochen, gesungen und gebetet wurde:

Mutter betet mit mir sveti angel varuh moj, bodi vedno ti menoj, stoj mi noč in dan ob strani, vsega hudega me brani, amen und sagt, dass Engel in die Seele eines Menschen blicken und ihre geheimsten Gedanken lesen können (Haderlap 2011: 13).

Das Mädchen besucht die slowenische Volksschule: „Mutter übt mit mir das Aufsagen slowenischer Gedichte, die ich für die Schule auswendig lernen muss.“ (Haderlap 2011: 24). Wir erkennen kleine slowenische Geschichten wieder – Kdo je ukradel Vidku srajčico und einige Gedichte aus Župančič‘ Mehurčki (Zima zima bela); zu der Zeit, als das Fernsehen in die Familien kommt, aber sie stellen mit den Nachbarn halblegal das slowenische Programm ein, die Kinder z. B. sehen den Film Kekec: „Das slowenische Fernsehen kann nicht immer empfangen werden, schon gar nicht offiziell. Die Politik wird es für die Kärntner Slowenen nicht einrichten wollen, sagt Michi zu Vater. Das wäre das achte Weltwunder“ (Haderlap 2011: 26).

Von der durch und durch slowenischen Welt aber zeugen auch die Nachnamen der zahlreichen Familien und ihrer Mitglieder, die im Roman auftreten oder auch nur erwähnt sind (Rastočnik, Želodec, Perko, Majdič u.a.). Als aber die Erzählerin aufgrund der Erzählungen ihrer Großmutter Splitter aus der Vergangenheit zu erkennen beginnt, in der Großmutter, Großvater, Vater und einige Onkels und Tanten Opfer der Gestapo-Gewalt wurden, die sich in dieser Kärntner Gegend reichlich an den slowenischen Familien, die mit den Partisanen kollaborierten, austobte, erkennt sie, dass ihr Slowenisch auch beschützende Kraft hatte, es war eine Art „göttlicher Schild“ – ihr Großvater war Partisan, im Gestapogefängnis in Klagenfurt betete er auf Slowenisch und er überlebte. Ebenso betete für sich, heimlich, auch ihre Großmutter auf Slowenisch, als sie von ihren Söhnen und ihrem Mann getrennt und ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert wurde. Die Treue zur slowenischen Sprache wird an mehreren Stellen betont. Slowenisch ist nicht nur der ursprüngliche Text des Lebens der Erzählerin, sondern in ihrer ganzen Familie die Sprache des intimsten, überaus liebevollen Verhältnisses – die Tante der Erzählerin, die nicht mehr aus Ravensbrück zurückkommt, hinterlässt einer Kärntner Mit-Internierten, der Wissenschaftlerin Angela Piskernik, ihre im Lager heimlich geschriebenen slowenischen Gedichte, die Piskernik, die das Lager überlebt, nach dem Krieg veröffentlicht. Auch sonst ist die gesamte Familie der Erzählerin slowenisch, viele ihrer Mitglieder dichten im Geist der Volkstradition, schreiben und spielen Theaterstücke: „Die Katrca habe Gedichte und kurze Theaterstücke geschrieben, die habe man auswendig gelernt und gespielt“ (Haderlap 2011: 61).

Beredt ist auch die Szene, als die Großmutter mit der Enkelin den österreichischen Besitz des Grafen, auf dem ihr Sohn Verwalter ist, besucht und mit dem Grafen deutsch reden muss, was sie aber nicht kann – für sie ist Deutsch nur die „Lagersprache“, es ist ihr und ihrer Enkelin – in Österreich – fremd. Auch die Erzählerin selbst, die später das slowenische Gymnasium besucht und sich dann nach Wien begibt, um zu studieren, veröffentlicht ihre ersten beiden Gedichtbände auf Slowenisch. Später aber, schon erwachsen und als Dramaturgin am Theater arbeitend, spürt sie, dass sich ihre Muttersprache irgendwie zu verlieren beginnt und dass das Deutsche sie immer mehr ersetzt:

Während meiner Arbeit am Theater in Klagenfurt wird sich die slowenische Sprache aus meinen Texten zurückziehen. Eines Tages werde ich feststellen, dass sie in meinen Notizen und Aufzeichnungen nicht mehr vorhanden, aus den Schubladen ausgezogen ist, dass sie meinen Schreibtisch geräumt und ihre schönsten Kleider mitgenommen hat (Haderlap 2011: 231).

Im Vordergrund des Romans aber stehen die drei tragenden Frauenfiguren: das Mädchen, seine Mutter und die Großmutter. In der frühen Kindheit übernimmt die Großmutter wegen der Arbeitsüberlastung der Mutter auf dem Hof im Leben des Mädchens die führende und beschützende Funktion. In ihrem Schrank hängt ein graugrüner Mantel, den sie im Lager Ravensbrück getragen hat und an den sich die erste Ahnung der Erzählerin knüpft, dass mit dem Mantel sowohl ein Geheimnis als auch ein Trauma verbunden ist, das sie als Kind noch nicht versteht und erst zu erkennen beginnt. Über Splitter der Erzählung der Großmutter beginnt sie sich dann Schauergeschichten aus der familiären Vergangenheit aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zusammenzureimen. Diese dringen in Form der Erinnerungen der Großmutter und dann des Vaters zu ihr, von ihnen zeugen auch die Lagernummer der Großmutter (24 834) und schließlich das Lagerheft, das sie ihrer Enkelin hinterlässt. Der Krieg, in dem auch zahlreiche andere slowenische Einwohner Eisenkappels und seiner Umgebung in den Nazi-Gefängnissen und Lagern umgekommen sind, deren Höfe von der Gestapo niedergebrannt und sogar ganze Familien darin umgebracht wurden (Peršman, Pečnik), greift so ununterbrochen in die Gegenwart, dem Vater der Erzählerin aber gestattet er nicht einmal, sich von ihm zu befreien und ein unbelastetes Leben zu beginnen (er ist seinetwegen dauerhaft geschädigt und verbittert; als er zehn Jahre alt war, banden ihn SS-Leute, um ihn zum Verrat am eigenen Vater zu zwingen, an einen Baum, schlugen und folterten ihn). Die Angst vor den Nazis und der Gestapo fraß sich in das Leben der Menschen (der Vater z. B. singt noch als Erwachsener im Wald Partisanenlieder, weil, so sagt er, nur diese die Angst vertreiben). Alle diese einfachen Leute sind dauerhaft Opfer der unbeschreiblichen nazistischen Gewalt geblieben.

Unter den zahlreichen Geschichten, die der Roman assoziativ aneinanderreiht, ragt auch die weibliche Kriegsgeschichte hervor. Diese bleibt in den Historien, die nach Kriegsende von Heldentaten berichten, für gewöhnlich übersehen, in diesem Roman aber wird sie völlig untendenziös betont. Die Großmutter, eine einfache Bäuerin, Frau und Mutter, ist ihre erschütternde Zeugin. Ihre Geschichte und die Geschichte anderer Frauen, die sie im Lager leiden gesehen hatte, legt Zeugnis ab vom weiblichen Leiden – der Mütter, die gewaltsam ihren noch kleinen Kindern entrissen werden, der Frauen, die erniedrigt, gefoltert und ausgehungert und in großer Zahl in Ravensbrück, Lublin, Dachau, auch ermordet wurden (Haderlap 2011: 125-129). Die Großmutter kam nach dem langen Leiden aus dem KZ zurück, nach dem anstrengenden Transport über Belgrad und das slowenische Koprivna ging sie zu Fuß über die Berge wieder heim zu ihrer Familie und kam langsam zu Kräften. Ihre Festigkeit und ihr Mut, zwei Bilder ihrer Leidensfähigkeit und Ausdauer, geben der Enkelin innere Stütze und Kraft. Einige andere Frauen aus der Umgebung aber hatten nach dem Krieg keinen Ort mehr, an den sie zurückkehren konnten, weil es ihre Familien und Häuser nicht mehr gab. Das waren die zahlreichen Marijas, Katrcas, Mimikas, die in den historischen Handbüchern nicht genannt sind, im Roman Maja Haderlaps aber ihren Platz bekommen haben. Auch alle diese schwer arbeitenden Mütter und Hausfrauen, die den Partisanen selbstlos Nahrung gaben, in der Überzeugung, dass der Faschismus das Böse ist, dem um jeden Preis Einhalt geboten werden muss.

Maja Haderlap belegt, dass der Partisanenwiderstand in Kärnten nicht in erster Linie mit der kommunistischen Bewegung verbunden war. Die Partisanen in Kärnten waren zum Großteil Katholiken, einfache gläubige Menschen, die an die menschliche Berechtigung ihres Widerstands glaubten. Nach dem Krieg aber wurden sie in Österreich oft als Anhänger der Kommunisten beschimpft, und auf der anderen Seite integrierte sie auch Jugoslawien als Nicht-Kommunisten nicht ihren Heldenkult. Die Geschichten vom slowenischen Partisanenwiderstand im österreichischen Teil Kärntens wurden zu ihren „Privatgeschichten“, Österreich aber wollte von ihnen, weil sie „kommunistisch“ waren, nichts mehr hören. Der ganze Staat begann sich, was seine Zusammenarbeit mit den Nazis betraf, auch immer mehr zu verstellen:

Niemand in diesem verstellungsseligen Land habe die Nazis willkommen geheißen, niemand das Großdeutsche Reich ersehnt, niemand Schuld auf sich geladen, niemand die Endlösung betrieben, nur ein wenig mitgetan, mitgeschossen, mitgemordet, mitvergast, aber das zählt nicht, nichts zählt (Haderlap 2011: 248).

Die herbe Ironie der Erzählerin ist an solchen Stellen des Romans gut erkennbar. Das ist ihr Ich klage an!, das ein dokumentiertes historisches Gedächtnis bewahrt. Nach dem Erscheinen ergingen Vorwürfe über der Autorin, dass sie statt auf Slowenisch auf Deutsch geschrieben habe. Doch wenn wir den Roman lesen, verstehen wir, warum die Wahl auf diese Sprache fiel. Unmittelbar, in ihrer Sprache, können nun von der schon fast ausgelöschten, unbenannten und verschwiegenen Geschichte auch jene lesen, denen der Roman ebenso zugedacht ist und die ihn auf Slowenisch wahrscheinlich nicht einmal wahrgenommen hätten. Angesehene deutsche und österreichische Literaturkritiker und Autorenkollegen aber bezeichneten den Roman als einen Roman mit großer Poesie und tiefer Bekenntniskraft. Mit ihm wurde aus der slowenischen Dichterin Maja Haderlap auch eine deutsche Prosaistin. Ihr literarisches Werk aber bezeugt eine spezielle Koexistenz beider Identitäten, der slowenischen wie der deutschen, der nationalen wie der literarischen.

Literatur

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— (1997a) “Lipuševa Stesnitev kot primer postmodernističnega zgodovinskega romana Razprave‟, Razr. filol. lit. vede – SAZU, 16, 5-16.

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— (2002): “Delež Koroške v sodobni slovenski prozi‟ in Nacionalno, regionalno, provincialno. Zbornik Slavističnega društva Slovenije, 13, Marko Jesenšek (Hg.), Ljubljana: Slavistično društvo Slovenije, 52-76.

— (2006) ‟Kratka proza Slovencev v Avstiji“ in Slovenska kratka pripovedna proza. Obdobja, metode in zvrsti, 23, Irena Novak Popov (Hg.), Ljubljana: Filozofska fakulteta, Oddelek za slovenistiko, Center za slovenščino kot drugi/tuji jezik, 37-47.

— (2007) “Slovenske knjižvenice v Avstriji‟ Wiener Slav. Jahrbuch, 53: 79-90.

— (2008) ‟Medkulturnost slovenske književnosti na avstrijskem Koroškem“ in Slovenščina med kulturami. Zbornik Slavističnega društva Slovenije, 19, Miran Košuta (Hg.), Celovec, Ljubljana: Slavistično društvo Slovenije, 43-54.

Haderlap, Maja (2011) Engel des Vergessens, Göttingen, Wallstein Verlag

Hofmann, Michael (2006) Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung, Paderborn, W. Fink (UTB 2839).

Strutz, Johann und Zima, Peter V. (Hg.) (1996) Literarische Polyphonie. Übersetzung und Mehrsprachigkeit in der Literatur, Tübingen, Günter Narr Verlag.

Strutz, Johann (Hg.) (1998) Profile der neueren slowenischen Literatur in Kärnten, Klagenfurt/Celovec, Hermagoras Verlag/Mohorjeva založba.

About the author(s)

Prof. Dr. Silvija Borovnik is a full profesor of Slovenian Literature at the Department of Slavic languages and literature at Faculty of Arts at the University of Ljubljana.

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©inTRAlinea & Silvija Borovnik (2016).
"Die Zweisprachigkeit der slowenischen Literatur in Österreich als Ausdruck zweifacher Identität"
inTRAlinea Special Issue: The Translation of Dialects in Multimedia III
Edited by: Koloman Brenner & Irmeli Helin
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